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Biochemie für Seelenärzte

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Zwei Faktoren haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, die dunkle Landkarte der seelisch-geistigen Erkrankungen aufzuhellen: Die Fortschritte in der Erforschung der komplexen chemischen Fabrik Körper und die massive Kritik an der Institution Psychiatrie, auch aus dem Kreis der Seelenärzte .

Der erste Faktor wurde durch Meßverfahren ermöglicht, die so verfeinert worden sind, daß nicht nur bekannte Stoffwechselphänomene exakt analysiert werden können, sondern auch immer mehr, bisher unbekannte biochemische Vorgänge auf Zellebene entdeckt werden. Dies gilt auch für die elektrochemischen Reaktionen, die vom Gehirn aus das körperliche und das seelische Geschehen regeln.

Es ist diese Forschung, die über psychische Erkrankungen einige harte Fakten liefert - einerseits mit dem Belegen von biochemischen Störungen (wie es für bestimmte Krankheitsbilder der Schizophrenie gelungen ist), andererseits mit dem Nachweis von genetisch fixierten Abweichungen.

Die Psychiatriekritik sieht im Extremfall jede seelische Krankheit als sozial bedingt, nicht als

Krankheit, sondern als lediglich von den herrschenden Normen einer bestimmten Gesellschaft abweichendes Verhalten — was, übrigens, wie Vergleiche verschiedener Kulturen zeigen, für einige Randgruppen stimmt.

Dieser zweite Faktor der radikalen Kritik ist so stark geworden (man denke nur an die Psychia-trierung von Regimegegnern in der Sowjetunion und an die Wirkung des Filmes „Einer flog über das Kuckucksnest", der in den USA spielt), daß er den Biologismus mancher Forscher unter Kontrolle hält; jenen Biologismus, der glaubt, daß unser Sein ausschließlich von materiellen, in der Erbmasse festliegenden Gegebenheiten bestimmt wird.

Ein Beispiel für ein Vorgehen, das nicht in Extremen blind denkt, sondern vorsichtig sucht, in psychische Erkrankungen Einblick zu gewinnen, kommt aus dem „National Institute of Mental Health" in Washington D. C. (USA). Dort gelang es zu belegen, daß die Körperzellen von Patienten mit dem Krankheitsbild der manischen Depression - ob als geheilt betrachtet oder nicht — im Vergleich zu Gesunden eine zu hohe Dosis des Gehirn-Botschafter-Stoffes Azetylcholin aufnehmen.

Wiewohl nur 42 Menschen untersucht worden sind, ist das Ergebnis so klar, daß das Forscherteam im angesehenen „New England Journal of Medicine" die Vermutung ausspricht, daß zwei Drittel aller manisch-depressiven Erkrankungen (schwere Depressionen wechseln mit exaltierten Hochstimmungen) durch diese genetische Abweichung mitbestimmt werden.

Trotz dieser begründeten Vermutung einer „materiellen" Ursache für das Leiden, betont der Institutsdirektor Frederick Good-win in einem Interview mit der „Washington Post", daß seelische und körperliche (in der Summe also soziale) Uberbelastungen wichtig bei der Auslösung fast aller psychischen Erkrankungen seien.

Solcher Fortschritt in der Forschung hat allerdings noch kaum auf die Praxis übergeschlagen. Der Alltag in den psychiatrischen Kliniken bleibt meist in den unmenschlichen Geleisen, die mit Recht jene Psychiatriekritik ausgelöst haben, die in ihren Extremen ebenso einseitig ist wie der Biologismus so mancher Forscher.

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