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Digital In Arbeit

„Bis an die Grenze gehen...“

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Da sitzt du, siebzig Kilo schwer, die Goldfeder gespitzt, und sollst Rede und Antwort stehen. In München sitzt du, mit dem Blick auf eine Bürohäuserlandschaft, geplagt vom Lärm und deiner verdammten Sensibilität. Einer Mitte Vierzig, der sich seit über zwanzig Jahren die Ärmel an derselben hellen Birnenholzplatte blank scheuert, sich den Kopf kratzt, die Pfeife nicht ausgehen läßt. Ein Mann, nach Worten suchend.

Ich weiß, es ist lachhaft. Wem ist damit gedient? Und doch — den größten Teil der Zeit finde ich das Füllen leerer Seiten mit schwarzen Buchstaben durchaus natürlich, zu etwas anderem bin ich wohl nicht zu gebrauchen. Ich schreibe, um mich verständlich zu machen. Ich versuche, Licht in eine dunkle Geschichte zu bringen. Aber was ist nicht alles schon geschrieben worden! Und hat es genützt? Wem? Die täglichen Meldungen, der Gedanke an Menschen aller Hautfarben, denen man zusetzt, bis sie aufbrüllen wie Vieh oder versteinern — jeder Gedanke an den uns zugemuteten Schmerz müßte mir Einhalt gebieten. Die Auseinandersetzung mit dem Tod können wir nicht gewinnen. Nur zeitweise sind wir am Leben, nur durch einen Zufall bin ich verschont. Und doch trete ich in die Fußstapfen derer, die buchstabierend etwas auszurichten gedachten. Ich erkenne mich in ihnen wieder. Im Wiedererkennen durch Worte liegt der Keim zu unserem Widerstand. Wir alle, die wir lesen, suchen wir nicht aus der Übereinstimmung mit dem Gelesenen Mut zu schöpfen? Solidarität: das Menschenmögliche der Dichtung.

Da stehen sie, deine Bücher, die das erhärten müssen, in einer Reihe, zwanzig oft schmale Bände, und um dich her in Schubladen, Regalen, Kommodenfächern, in zwei von drei Zimmern stapeln sich Zeitungsausschnitte, Journale, Anthologien, Schulbücher, Schallplatten, auch sie von deiner Arbeit zeugend: gewissermaßen der Vorhof deiner Bücher. Hättest du dir das träumen lassen, damals, als du den ersten Satz formuliertest, der sich als nicht dilettantisch erwies? Erinnerst du dich?

Ich fing an, weil mir das Festhalten von Worten Freude machte. Auch heute noch kenne ich unter allen Beschäftigungen keine, die mir angenehmer wäre. Worte hinsetzen, die mehr bedeuten als Worte sagen: Ist das der Grund? Plötzlich kann man es nicht mehr lassen. Das ist dann der Beruf. Ich erinnere mich genau, wie ich zum erstenmal ahnte, daß ich mit der Sprache über die Worte hinausgestoßen war. In die Sphäre hinaus, wo die Bilder sind.

Solche Sätze klingen, als ob das Schreiben eine reine Freude wäre. Dabei gibt es immer wieder Momente, in denen du beschriebenes Papier zusammenknüllst, es gegen die Wände feuerst. Heiß oder kalt, du bist so unzufrieden mit dir, daß es dich schlaflos macht.

Eine Freude mit Fingerabdrücken, befleckt vom Wahn nach Vollkommenheit, ausgelaugt von sechs, sieben Stunden Krummsitzens in einem verqualmten Raum, eine in Frage gestellte Freude. Pavese: „Daran denken, daß Gedichte machen so ist, wie wenn man jemanden umarmt: Man wird nie erfahren, ob die eigene Freude von anderen geteilt wird.“ Dennoch, je älter ich werde, desto mehr bedeutet mir der Zustand, in dem die Arbeit zu glücken scheint. Im Grunde zählt für einen Mann nur dieser Lohn. Der ist unabhängig von jeder Kursschwankung. Mag es sich auch herausstellen, daß die Freude umsonst gewesen ist: Jene Augenblicke, in denen ich mit meiner Sache im Einklang war, gehören ein für allemal zum besten Teil meines Lebens.

Und die Kehrseite der Medaille? Der Beruf mit seinen Fallen? Die grassierende Verwechslung von Literatur mit Politik? Dieses Links-um, Rechtsum? Diese Erklärungen, daß die Wahrheit nicht in der Mitte liegt?

Vieles ist davon abhängig, wie sich ein Autor zum Erfolg verhält. Erfolg, meinte Faulkner einmal, sei etwas Weibisches. Wer verrückt nach ihm ist, den ruiniert er. Ich habe Talente kommen und gehen sehen. Selbst hinter dem breiten Rücken einer Gruppe ist man für eine Weile sicher. Risiken über Risiken. Der freie Schriftsteller ist ein vogelfreier. Was hilft es ihm, auf seine Leistung zu pochen? Wer tritt für ihn ein, wenn er sich benachteiligt glanfbt, zu kurz kommt? Es gibt noch keine Gewerkschaft für Schriftsteller und kein zuständiges Arbeitsgericht. Ausgeliefert der Willkür der Kritik, den Päpsten und ihren Bullen, der Unberechenbarkeit derer, die ihn kaufen, um ihn zu verkaufen: eine haarsträubende Existenz. Wer so rückhaltlos zu leben wagt, für den kann die Wahrheit weder links noch rechts verankert liegen. Seiner Meinung nach läßt sie sich nicht an die Kette legen, auch nicht an die des Erfolges. Die Wahrheit liegt in der Luft.

Du stammst aus dem Osten, aus einer Grenzstadt. Nicht zufällig. Wer deine Bücher liest, wird immer wieder auf Spuren deiner Herkunft stoßen. Welche Bedeutung hat es für dich, daß du rechts der Oder geboren wurdest?

Mit dem Wort Heimat hat man viel Schindluder getrieben, die Kitschjes aller Spielarten scheinen es gepachtet zu haben; jemand, der mit der Sprache nicht achtlos umgeht, kann es kaum noch in den Mund nehmen. Dennoch bleibt der Inhalt des Wortes nach wie vor ein Stück Fundament unseres Wesens. Diese Grenze, von der ich herkomme, hört nicht auf, mein Denken und meine Phantasie zu beschäftigen. Die stärksten, die maßgebenden Bilder sind die ersten. In Anlehnung an jene frühen Erfahrungen heißt schreiben für mich: bis an die Grenze gehen.

In einem Zeitalter, das man das technische nennt, herrscht der Begriff des Machbaren beinahe schrankenlos. Alles Gelingen wird als menschliche Leistung verstanden, Unheil, Versagen zu „Kunstfehlern“ abgewertet.

Unter dem Abgott Leistung leiden wir heute mehr, als wir ahnen. Sicher, vieles haben Menschen in der Hand. Einiges aber fällt uns zu, und wenn es gut ist, sollten wir dankbar sein. Daß unser Land Frieden hat, nun schon ein Vierteljahrhundert, werde ich nie als etwas Selstverständliches nehmen. Sind nicht auch Schriftstücke und Drucksachen von Autoren Gunstbeweise? Selbst mit allen Mitteln der Kunst ist manchmal nichts auszurichten. Unsere Produktivität ist abhängig. Dennoch halte ich es für notwendig, jenen Höhenweg zu verfolgen, der Ausdauer und Kaltblütigkeit erfordert und in der Musik gradus ad Parnassum heißt. Aber Meisterschaft darf nicht mit Virtuosität verwechselt werden. Leichtigkeit, von Gnaden der Klarheit. Die große Kunst, deutsch zu schreiben.

Damit bist du bei deinem Thema, dem Schönen.

Ich zitiere Brecht: „Es wird sich herausstellen, daß wir ohne den Begriff Schönheit nicht auskommen.“ Sie, die Schönheit, heute eine verachtete und verhöhnte Kategorie, ja, ich nehme sie in Schutz. Sie ist längst nicht mehr das Wohlgefällige, Glatte, das nirgends Widerstand bietet. Die Dialektik in der Entwicklung der Ästhetik hat den Spieß umgedreht: Heute stolpern wir über das Schöne. Es ist zum Stein des Anstoßes geworden. Und so müssen wir es auch gebrauchen: als etwas Anstößiges, an dem sich die Geister scheiden. Schönheit als Provokation. Zum Nachdenken herausfordernd. Scharf geschliffen.

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