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Bis jetzt nur das Europa der „Flies“
Die Schlußfolgerung aus einem Lapsus linguae — nach Sigmund Freud — läßt einiges aus der Tatsache ablesen: Präsident Pompidou nannte seinen Außenminister Maurice Schuman plötzlich „Robert“.
Der frühere Ministerpräsident Robert Schuman gehört nämlich nicht unbedingt zu den Lieblingsgestalten der V. Republik. Er und sein Berater Monnet werden selten zitiert. Letzterer, mit seinen 84 Jahren noch unermüdlich für die Einigung Europas tätig, wurde nie zu einem offiziellen Empfang der französischen Regierung eingeladen. Zum ersten Mal geschah dies allerdings am Abend des Konferenzschlusses im Quai d'Orsay.
Bei dieser Gelegenheit wurde der eigentliche Schöpfer der Montanunion von der Gattin des britischen Botschafters öffentlich geküßt. Lady Soames ist außerdem Churchills Tochter, wodurch die geistige Verwandtschaft zwischen den Franzosen Schuman und Monnet und dem englischen „Löwen“ unterstrichen wurde. Man erinnerte sich auch sehr diskret eines anderen großen Europäers, des Österreichers Coudenhove-Kalergi. Sein 50jähriger Appell gab zu einer Gedenkmesse Anlaß. Außenminister Maurice Schuman veranstaltete dann -zu Ehren des amtierenden Präsidenten der Pan-Europa-Union, Dr. Otto Habsiburg, einen großen Empfang.
Am Ende der nächtlichen Pressekonferenz drückte Staatspräsident Pompidou dem Chef der EWG-Kommission, Sicco Mansholt, lange und ostentativ herzlich die Hand. Dies kann als eine Versöhnung der zwei europäischen Konzepte verstanden werden: des übernationalen, integrierten Europa und des gaullistischen Europa der Vaterländer. Leistet die Pariser Gipfelkonferenz also eine Pioniertat?
Die Europäer hatten sich an die Brüsseler Nachrichten über endlose, technische Sitzungen gewöhnt. In der Hauptstadt der EWG hatte sich eine kühle Technokratie eingenistet, bereit zur Ausarbeitung von Gesellschaftsmodellen auf dem Reißbrett. Nun kamen die leitenden Staatsmänner zur Erkenntnis, wie sehr Europa des Menschen bedarf. Die Vorschläge von Bundeskanzler Willy Brandt über eine europäische Sozialpolitik stehen unter dem Gesichtspunkt des deutschen Wahlkampfs. Trotzdem finden sich in dem von ihm vorgelegten Katalog konstruktive Überlegungen. Sie wurden von den Franzosen teilweise angenommen und vorangetrieben. Dem Augenschein nach ist die deutsch-französische Zusammenarbeit zu einem festen Bestandteil der europäischen politischen Sitten geworden.
In einem Punkt hapert es freilich noch immer im werdenden Europa: bei der so oft geforderten Gleichberechtigung der Geschlechter. Die deutsche Staatssekretärin Katharina Focke war — als stummer Gast — die einzige weibliche Teilnehmerin. Vom Konferenzvorsitzenden Georges Pompidou wurde sie konstant „Monsieur Focke“ genannt. Durch die rein zahlenmäßige Präsenz der Frau als Wähler in Europa sollten die Traditionen- des Mittelalters endlich gebrochen und den „Frauen in der Kirche“ Sitz und Stimme eingeräumt werden. Gerade in sozialpolitischen Belangen müßten weibliche Experten bei Konferenzen intensiver als bisher herangezogen werden.
Den Sichenheitsbehörden saß das fürchterliche Exempel von Müncher ohne Zweifel in den Knochen. Ni« zuvor wurde eine internationale Zusammenkunft derartig bewacht. Da< Hotel „Majestic“ und seine Nebengebäude glichen einer belagerten Festung. Zwischen der europäischer Bevölkerung (durch einige spärlichf Neugierige vertreten) und den Regierungschefs bildete die Polizei eine Sperrzone, die jeglichen Dialog unmöglich machte. Man konnte also — leicht melancholisch — konstatieren bisher sei nur das Europa der „Flies' Wirklichkeit geworden. Alle Delegationen wissen, daß das EWG-EuropE
wenig Anklang in der Öffentlichkeit findet. Wie auch das norwegische Referendum zeigte, interessiert sich die heranwachsende Generation verschiedener Staaten im allgemeinen nur wenig für die zukünftige politische Gestaltung des Abendlandes. Hier müssen private Organisationen — wie die Pan-Europa-Union und alle europäischen Bewegungen — aushelfen, um in Aufklärungswellen jene Hingabe zu Europa zu erzeugen und jene Bereitschaft zu erwecken, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges spontan vorhanden war.
Die Gipfelkonferenz war eine riesige Weltnachrichtenbörse. 1300 Berichterstatter aus allen Kontinenten hatten sich eingefunden. Sie diskutierten über die politischen und wirtschaftlichen Probleme des ganzen Planeten. Es mag verwunderlich sein, wie wenig es Österreich für wichtig erachtete, diese Gelegenheit zu nützen, um die besondere Rolle der Alpenrepublik diskutieren zu lassen. Mit Ausnahme des unverwüstlichen
Hugo Portisch und einiger Korrespondenten war weit und breit kein Österreicher zu entdecken. Dabei wurde des öfteren eine „faschistische“ Gefahr in Österreich erwähnt. Die zahlenmäßig starken Holländer und Skandinavier zeigten sich speziell über die Entwicklung in Kärnten mehr' als besorgt. Offensichtlich scheint die österreichische Pressearbeit im Ausland gerade bei solchen Gelegenheiten nicht genügend koordiniert zu sein. Ein positives Beispiel von Public-Relations gaben da die Jugoslawen mit ihrer geschickten Diskussionsführung in den Räumen des Pressezentrums.
Europa wurde Wirklichkeit. Diese wird auch von der Sowjetunion, Japan und Südamerika gebührend eingeschätzt. In den Wandelgängen des „Majestic“ wurde erstaunlich viel russisch gesprochen. Aus Gesprächen mit östlichen Kollegen gewann man den Eindruck, die sozialistische Welt erwarte — in handelspolitischer Beziehung — Gesten von seiten der EWG. Eine Tatsache kann nicht genügend betont werden: mit Beginn des nächsten Jahres hören die bilateralen Vertragsverhandlungen zwischen den EWG-Ländern und den sozialistischen Staaten auf. Dafür tritt die Brüsseler Kommission federführend in das Vorfeld der wirtschaftlichen Kontakte.
Wer das Glück hatte, am ersten Europakongreß im Mai 1948 in Den Haag teilzunehmen und den Reden Churchills und Adenauers zuzuhören, wird sich am Ende der Pariser Gipfelkonferenz des langen, von Europa gemeinschaftlich beschrittenen Weges bewußt. Die europäische Idee — oft von Krisen erschüttert, mit nationalen Spannungen konfrontiert und durch institutionelle Diskussionen gelähmt — kämpft, bis sie 1980 eine endgültige Form in einer noch näher zu bestimmenden, politischen Union finden wird.
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