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„Bis sich sein Wirken nach Sibirien verlegte"

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Hans Schafranek rekonstruiert in seinem Buch „Die Betrogenen" (Picus Verlag, Wien 1991,246 Seiten, öS 248,-) die Schicksale von Hunderten in Stalins Mühlen geratenen Österreichern.

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Hans Schafranek rekonstruiert in seinem Buch „Die Betrogenen" (Picus Verlag, Wien 1991,246 Seiten, öS 248,-) die Schicksale von Hunderten in Stalins Mühlen geratenen Österreichern.

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Der österreichische Historiker Hans Schafranek sammelt Schicksale. Mit Akribie geht erden Lebensläufen jener Österreicher nach, die Stalin zum Opfer fielen. Viele waren überzeugte Kommunisten, die in die Sowjetunion fuhren, um bei der Verwirklichung ihrer Ideale mitzuarbeiten. Andere flohen als Schutzbündler, Mitglieder der bewaffneten sozialdemokratischen Organisation (auf der bürgerlichen Seite war ihnen die Heimwehr gegenübergestanden), nach dem Februar 1934 nach Rußland. Oder sie sympathisierten mit der Sowjetunion. Öder suchten dort einfach Arbeit - in den Jahren der großen Krise keine abwegige Idee. Viele verloren ihr Leben. Andere hatten Glück und sahen nach Jahren in Gefängnissen und Lagern die Heimat wieder.

Das Thema blieb lange der Forschung entzogen. Stalin vernichtete seine Millionen Opfer nicht nur physisch, sondern radierte auch die Erinnerung an sie aus, wo immer es möglich war. Seit immer mehr sowjetisches Archivmaterial auch für westliche Historiker zugänglich wird, ist es möglich, wenigstens die Erinnerung an einen Teil dieser Menschen zu retten und Überlebenden Einblick in das Funktionieren des Apparats zu ermöglichen, der sie für Jahre verschlang.

Als sie in die Sowjetunion kamen, war Stalin erst dabei, seine Alleinherrschaft zu sichern und seine Terrormethoden zu perfektionieren. Als sie unter absurden Anschuldigungen vor Gericht gestellt wurden, verstanden sie nicht, was mit ihnen geschah. Schafraneks neues Buch „Die Betrogenen" enthält als Kernstück 405 Kurzbiographien österreichischer KP-Funktionäre, Facharbeiter, Schutzbündler und anderer politischer Flüchtlinge, die zwischen 1933 und 1939 in der Sowjetunion verhaftet und zum Teil ermordet wurden.

Denunziations-Plansoll

Der dritte Mann von rechts in der ersten Reihe der auf dieser Seite abgedruckten Gruppenaufnahme blickt noch halbwegs wohlgemut in die Zukunft: Ein österreichischer Arbeiter mit seinen Arbeitskollegen in der Fahrradfabrik in Pensa. Nicht politische Überzeugung, sondern Arbeitslosigkeit hat ihn (mit seinem bald nach Österreich zurückgekehrten, sozialdemokratisch engagierten Vater) zur Auswanderung veranlaßt. Einige Zeit später wird er in das Sta-lingrader Traktorenwerk versetzt, vom Lackierer zum Dreher und nach einem Arbeitsunfall, bei dem er das linke Auge verliert, zum Konstrukteur umgeschult - dann holt die Geheimpolizei Julius Puschek ab.

„Sie werden beschuldigt, einer Diversionsgruppe im Stalingrader Traktorenwerk anzugehören. Ihr Auftraggeber, Ing. Weissenstein Gottlieb, (ebenfalls Österreicher) stellte an Sie die Forderung, Schädlingsarbeit im Traktorenwerk durchzuführen. Sie waren mit der Aufforderung einverstanden, konnten aber aufgrund Ihrer guten Tätigkeit als Konstrukteur keinen Versuch wagen, tatsächlich zu schädigen, da dies ansonsten sofort aufgefallen wäre. Dank der Tüchtigkeit des NKWD wurde Ihre Absicht, dennoch zu schädigen, vereitelt und zeitgerecht die notwendigen Gegenmaßnahmen getroffen."

Als der Untersuchungsrichter bei einem nächtlichen Verhör im März 1939 diese absurden Anschuldigungen aus der Tasche zog, war Julius Puschek nach 19monatiger Untersuchungshaft bereits zermürbt. Eine von Schafranek zitierte Ostberliner Publikation („Schauprozesse unter Stalin 1932-1952", Vorwort von Horst Schützler, Berlin 1990) bestätigt, daß Stalin offenbar keinen Unterschied zwischen der „Entlarvung von Volksfeinden" und den Produktionszahlen der Fabriken sah. Hier wie dort war Erfüllung des Plansolls selbstverständlich, Mehrleistung Überlebensfrage. Aus einem Bericht „Über die Ergebnisse des Sozialistischen Wettbewerbs der dritten und vierten Abteilung der Verwaltung für Staatssicherheit des NKWD der Republik (Kirgisien, Anm. d. Red.) für Februar 1938": „Die vierte Abteilung hat im Vergleich zur dritten Abteilung die Anzahl der monatlichen Verhaftungen um das Anderthalbfache gesteigert und 13 Spione undMitgliedereinerkonterre-volutionären Organisation mehr entlarvt als die dritte Abteilung... Diese übergab jedoch 20 Fälle dem Militärkollegium und elf Fälle dem Sondertribunal, was die vierte Abteilung nicht schaffte. Dafür hat die vierte Abteilung die Anzahl der von ihrem Apparat zum Abschluß gebrachten Fälle (das Randgebiet nicht gerechnet), die von der Dreierkommission geprüft wurden, um fast 100 Personen gesteigert..."

Planet Kolyma

In den Memoiren ehemaliger österreichischer kommunistischer Funktionäre, bis hin zu Emst Fischer, lesen wir nichts über diese Art von sozialistischem Wettbewerb. S ie blieben aber vom Überlebenskampf im Zeichen eines zum politischen System erhobenen Mißtrauens und der keinen Tag abwesenden Lebensgefahr keineswegs verschont und mußten ihren Beitrag im Denunziations-Wettbewerb leisten. Mindestens eine Arbeit zu diesem Thema in sowjetischen Archiven steht dem Vernehmen nach vor dem Abschluß. Ein großer Teil der vom „realen Kommunismus" Betrogenen war Täter und Opfer zugleich. (Im Gegensatz dazu produzierte das NS-System Täter, die sich hinterher zu Opfern stilisierten.)

Puscheks weiteres Schicksal: Ein Schicksal wie tausende. Verurteilung zu fünf Jahren Lagerhaft in Abwesenheit. Monatelanger Transport an die „östliche Riviera", wo die Häftlinge singen: „Kolyma, du wunderbarer Planet, zwölf Monate Winter,, sonst immer Sommer..." Schwerstarbeit im Freien, die erst bei 55 Minusgraden abgebrochen werden durfte - Puschek erinnert sich an Tage, an denen die Temperatur auf 70 Minusgrade sank. Vom Krieg mit Deutschland erfuhren die Häftlinge gerüchtweise Jahre später, „offiziell" erst 1944 oder 1945. Unterschied zu vielen anderen: Puschek überlebte und durfte schon 1947 heimkehren. Der Vater war im KZ Buchenwald gestorben. Er selbst lebt als Pensionist in Bad Deutsch-Altenburg. Die Sowjetunion rehabilitierte ihn nicht nur, sie hat ihn auch großzügig entschädigt. Mit 20.397 Schilling für verlorenes Eigentum.

Rote Wiegenlieder

Eine andere Geschichte, die des Wilhelm Brainin, hat kein Happy End. Er wuchs, wie sein 1905 vor der Flucht der Eltern noch in Rußland geborener Bruder Boris, in Wien auf - der Vater frommer Jude, die Mutter Bolschewikin, die Kinder in den Schlaf gesungen mit „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit..."

Dem 1907 in Wien geborenen Mathematiker Wilhelm Brainin bot im Mai 1934 das Moskauer Kommissariat für Volksbildung einen Posten als Dozent für Mathematik am deutschen pädagogischen Institut in Engels an. Er wurde zwei Jahre später verhaftet, wegen „antisowjetischer Agitation" verurteilt und im April 1940 - wie so viele Juden und Nazigegner - Hitlers Gestapo übergeben. Er starb eineinhalb Jahre später im Getto von Lublin. Sein gleichzeitig verhafteter Bruder Boris lebt noch in Moskau. In einer Würdigung der „Volksstimme" hieß es vor Jahren, er habe in Engels unterrichtet, „bis sich sein Wirken nach Sibirien verlegte". Er blieb zehn Jahre im Lager - vergessen, pardon, verlegt.

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