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Digital In Arbeit

Bisher unbekannte Briefe

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In den vergangenen Jahren war gelegentUch von der Planung und den Fortschritten, leider auch von Problemen und Hemmnissen der historisch-kritischen Lenau-Ausgabe zu lesen. Die beteiligten Wissenschaftler haben sich mit Äußerungen bisher zurückgehalten, da sie wissen, wie schwer es ist, bei Editionsprojekten zeitliche Prognosen abzugeben. Das gilt auch für den Schreiber dieser Zeilen, der die Briefbände mitherausgibt.

In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates konnte ich auf der Jah-

restagung der Internationalen Lenau-Gesellschaft im September 1988 in Sindelf ingen bei Stuttgart ankündigen, die beiden ersten Bände der Ausgabe erschienen wahrscheinlich 1989. Dies wagte ich nur zu sagen, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits die Druckfahnen des ersten Bandes in der Hand hielt — die Publikation selbst ist von diesem Zeitpunkt an nur noch ein Problem der Technik.

Warum ist überhaupt eine so aufwendige — und damit teure — Neuausgabe nötig? Dem Literaturliebhaber mögen Lese-Ausgaben genügen; für die wissenschaftliche Arbeit allerdings sind historisch-kritische Ausgaben unerläßlich. Sie können nur für Autoren in Angriff genommen werden, die nach allgemeiner Ubereinkunft (der Wissenschaft, aber auch der geldgebenden Ministerien und Institutionen) Wesentliches zu unserem kulturellen Erbe beigetragen haben.

Die bisher beste Lenau-Aüsga-be von Eduard Castle (sechs Bände, Leipzig 1910-1923) entspricht dem heutigen wissenschaftlichen Standard in keiner Weise, hat ihm in wichtigen Punkten nie entsprochen. Eine historisch-kritische Ausgabe erfordert die vollständige Erfassung der Drucke zu Lebzeiten sowie der Handschriften, ihre Beschreibung und die Verzeichnung von Abweichungen in kritischen Apparaten, schließlich eine detailgenaue Kommentierung. Für all diese Arbeitsschritte lagen nur wenige Vorarbeiten vor, zum Beispiel ^t Lenaus Werk bisher noch nie in einer kommentierten Ausgabe erschienen.

Der Umfang und die erforderliche Genauigkeit dieser Arbeiten führen dazu, daß eine Vorbereitungszeit von zehn bis fünfzehn Jahren für eine historisch-kritische Ausgabe durchaus nicht ungewöhnlich ist. Bei der Lenau-Ausgabe kam hinzu: Nach dem Beschluß der Lenau-Gesellschaft sollte die Zusammensetzung des Herausgeber-Gremiums die In-ternationalität der CJesellschaft sowie den Wirkungsraum des Dichters Lenau widerspiegeln.

So wurde die Ausgabe zugleich zu einem wissenschaftsgeschichtlichen und -politischen Experiment: Zu dieser Edition fanden sich Wissenschaftler aus fünf Ländern zusammen, aus Österreich, Ungarn, Polen, DDR und Bundesrepublik Deutschland. Das brachte und bringt zwar Abstimmungsprobleme und Verzögerungen mit sich, eröffnete allerdings auf der anderen Seite eine fruchtbare und erfreuliche Zusammenarbeit über die Grenzen von Ländern und wissenschaftlichen Methoden hinweg.

Die Ausgabe wird sieben Bände (in neun Teilbänden) umfassen: je zwei Bände Gedichte, Versepen, Brief texte und Kommentare zu den Briefen sowie einen Band mit Tagebüchern und vermischten Schriften. Die beiden in Druck befindlichen Bände (V. 1 und VI,

1) enthalten die Texte sämtlicher Briefe.

Natürlich liegt die Frage nahe, wairum nicht mit dem Kern von Lenaus Werk, den Gedichten, begonnen wird. Das hängt zum einen mit den unterschiedlichen Arbeitsfortschritten der einzelnen Herausgeber zusammen; zum anderen und wichtiger jedoch: Im Bereich der „dichterischen Werke“ sind die Neuheiten im Textbestand gering, der wissenschaftliche Gewinn liegt vor allem in neuen Fassungen, in zahlreichen Details, in den Kommentaren.

Im Bereich der Briefe jedoch wird die Ausgabe auch zahlreiche unbekannte Texte bieten. Durch Umfragen bei über 300 Bibliotheken und Archiven in zwanzig Ländern wurden 42 bisher unbekannte Briefe ermittelt; von etwa 70 Briefen, die bisher nur nach älteren, teilweise unvollständigen und ungenauen Drucken bekannt waren, wurden die Handschriften gefunden, so daß die Texte verbessert und die Briefe in zahlreichen Fällen erstmals vollständig veröffentlicht werden können.

Die neu aufgefimdenen Briefe erweitern und differenzieren unser Bild vom Privatleben Lenaus, von seinen Beziehungen zu seinem Hauptverleger Cotta sowie von seinen Verflechtungen in das kulturelle und gesellschaftliche Leben seiner Zeit. Die erstmals überhaupt gesammelten und in den Kommentarbänden abgedruckten Briefe am Lenau ergänzen dieses Bild in vielfältiger Weise.

Die gesamte Briefausgabe wurde — ein Novum in der Editionsgeschichte Lenau’scher Werke - mit Hilfe moderner Textverarbeitungstechniken erstellt. Der österreichische Bundesverlag, bei dem die Ausgabe erscheinen wird, hat sich so weit mit den daraus resultierenden Fragen und Problemen vertraut gemacht, daß auch von dieser Seite her die Hoffnung besteht, daß Lenaus Werk in einer Gestalt erscheinen wird, die der literarischen Bedeutung dieses Autors angemessen ist.

Der Autor ist Professor in Paderborn und Präsident der »Internationalen Vereinigung für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft“.

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