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Blessuren der Demokratie

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Am 15. August 1947 bekam Indien von Großbritannien die Unabhängigkeit. Zugleich be­kam sie (das Land Indien ist für die Inder weiblich und wird auch als „Mutter Indien" bezeichnet) einen Teil der großen Probleme mit, die auch noch heute bestimmend sind.

Zum Beispiel der Konflikt zwi­schen den großen Religionsgrup­pen Hindus und Moslems. Während man in den großen Städten die lang ersehnte Unabhängigkeit feierte, befanden sich die Provinzen Bengalen und vor allem der Punjab im Bruderkrieg. Beide waren von den Briten geteilt worden, in beiden kämpften Moslems gegen Hindus, in beiden fand eine umfangreiche Völkerwanderung statt. Diese Mi­grationsbewegungen betrafen allein im Punjab fast eine halbe Million Menschen.

Ein weiterer großer Konfliktherd bestand in der Vielfalt der ethni­schen Gruppen Indiens. Schon bald nach der Unabhängigkeit wurde ein regionaler Patriotismus laut, der nach einer Neueinteilung der Bun­desstaaten entlang der sprachlichen Grenzen verlangte. Diese wurde auch letztlich durchgeführt, nach einer langen Reihe von Agitationen und Demonstrationen. Erst 1966 wurde die letzte dieser Neuordnun­gen, die Teilung des indischen Punjabs in Punjab und Haryana nach langem Widerstand der Zen­tralregierung vollzogen.

Seit der blutigen Geburt des frei­en Staates Indien war die Kongreß-Partei die dominierende Partei und die Nehru-Familie die dominieren­de Familie in der Politik des Sub­kontinents. Erster Premierminister wurde der Freiheitkämpfer und enge Vertraute Mahatma Gandhis, Pandit Jawarhalal Nehru (1947 -1964). Nach dessen Tod und einem kurzen Interregnum von Lal Bahadur Shastri folgte seine Tochter, Indira Gandhi (1966 - 1977 und 1980 - 1984) ihm im höchsten Amte nach. Nach ihrer Ermordung 1984 bis Ende 1989 war schließlich ihr Sohn Rajiv Gandhi Premiermini­ster.

Die einzige Zeit bis jetzt, in der nicht der Kongreß die Regierung stellte, war zwischen 1977 und 1980, als nach der unrühmlichen Periode der Diktatur Indira Gandhis (die sogenannte Emergency 1975 -1977) eine Koalition der damaligen Op­positionsparteien unter Führung der Janata-Partei an die Macht gewählt wurde. Diese zerfiel aber innerhalb von drei Jahren aufgrund innerer Streitigkeiten und persön­lichen Machtstrebens ihrer Vertre­ter.

Im Gegensatz zu Pakistan und auch Bangladesh war Indien fähig, eine funktionierende Demokratie, mit all ihren Mängeln, aufrechtzu­erhalten. Sie hatte das britische Modell eines relativen Mehrheits­wahlsystems mit Einerwahlkreisen - welche Partei die relative Mehr­heit in einem Wahlkreis erreicht, entsendet auch ihren Vertreter ins Parlament - übernommen, wodurch oft deutliche Diskrepanzen zwi­schen Stimmenanteil und Gesamt­zahl an Mandaten (Sitzen im Parla­ment) entstehen. Für das Funktio­nieren dieser Demokratie spricht, daß sowohl bei den überraschend angesetzten Wahlen nach der E mer-gency und der drei Jahre später stattfindenden Abwahl der Janata-Regierung als auch im letzten Wahlgang Ende 1989 sich eine überaus deutliche Wahlbewegung zugunsten eines Wechsels manife­stierte.

Zu den anfänglich erwähnten Problemen des Riesenstaates sind im Laufe der letzten Jahre noch einige hinzugekommen. So das Bevölkerungswachstum, wodurch heute mehr als doppelt soviel Men­schen (rund 840 Millionen) Indien beleben als zur Zeit der Unabhän­gigkeit (etwa 350 Millionen). Da­mit zusammenhängend auch das unbewältigte Problem der Armut und Verelendung breiter Bevölke­rungsschichten. Trotz Grüner Re­volution und starker industrieller Produktionssteigerungen konnte der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze nicht wesentlich gesenkt werden. In absoluten Zah­len leben heute wesentlich mehr Menschen in Armut als vor 42 Jah­ren. Der wirtschaftliche Fortschritt kam nur wenigen zugute.

Kein Wunder also, wenn Unzu­friedenheit und Ärger um sich grei­fen. Seinen Ausdruck finden diese im Entstehen und Anwachsen radi­kaler Gruppen, die sich entlang separatistischer, kommunalisti-scher und revitalistischer Ideolo­gien und Ausdrucksformen formier­ten. Ob es nun der eigene Staat ist, den es zu erreichen gilt, die eigene Ethnie, die geschützt werden muß, die eigene Religion, die verteidigt werden muß oder die eigenen alten Traditionen, die erhalten werden müssen, immer ist damit verbun­den ein Feindbild des anderen, der das eigene Leben gefährdet und den die Schuld an der eigenen mißli­chen Lage trifft. Die indischen Politiker scheinen wohl nie müde zu werden, solche Grundströmun­gen zu ihrem eigenen Vorteil aus­zunützen.

Auch die Gewalttätigkeiten ha­ben im Zuge dieser Auseinander­setzungen in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Im Jahre 1984 nach dem Tode Indira Gand­his starben mehr als 2.000 Sikhs an der Rachsucht von Hindus, die glaubten, Indiras Tod rächen zu müssen. Zuzüglich zu diesen Toten starben mehr als 6.500 Menschen seit 1983 durch Terrorakte wegen des Konflikts um den Punjab.

Auch die Ausschreitungen zwi­schen Hindus und Moslems haben in den letzten Jahren wieder zuge­nommen. Auf beiden Seiten haben sich reaktionäre Gruppen gebildet, die meinen, ihre Religion mit der Waffe verteidigen zu müssen. Al­lein in einer kleinen Stadt in dem nordindischen Bihar starben im November 1989 über 1.000 Men­schen, überwiegend Moslems, in Zusammenstößen zwischen Hindus und Moslems.

Und während der Parlaments­wahlen 1989 starben mehr als 100 Menschen in Auseinandersetzun­gen zwischen verschiedenen wahl­werbenden Gruppen.

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