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Blick rückwärts

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Stellen wir uns vor, ein Mensch wäre 15 Jahre im Schlaf gelegen und plötzlich erwacht. Sein erster Weg hätte ihn in die Hallen der Frankfurter Buchmesse geführt. Aus dem, was er da sah, würde er auf den Zustand der Welt schließen ...

Sein Gesamteindruck wäre wohl zwanglos auf etwa diese Formel zu bringen: Eine heile Welt, verglichen mit der von 1968. Keine von inneren Konflikten zum Zerreißen beanspruchte Gesellschaft. Keine mutig und fortschrittsfroh in die Zukunft blik-kende Menschheit, aber auch keine am Rand der Vernichtung.

Können es sich die Menschen wieder leisten, sich mit dem Schönen zu befassen? Haben sie es verstanden, ihre Rebellen zu versöhnen, die gefährlichsten Konfliktherde auszuräumen?

Einem aus dem Narkoseschlaf erwachten Kulturhistoriker würde freilich nicht entgehen, wie sehr die Grundstimmung hinter dem scheinbaren Frieden der vieler anderer Epochen ähnelt, die ebenfalls den Blick von einer wenig Gutes verheißenden Zukunft ab- und in die Vergangenheit wandten und einen hohen Verdrängungsaufwand leisteten, um sich ihrer Ratlosigkeit nicht bewußt werden zu müssen.

Ist's wirklich erst zwei, drei Jahre her, daß die Buchmesse einem Jahrmarkt der Weltuntergänge glich, Atompilze dräuten, wohin man schaute, der Hunger aus großen Augen von den Bucheinbänden in die Welt der Satten starrte?

Wer wissen will, womit sich die Menschen beschäftigen, der blik-ke in die Auslage einer Buchhandlung. Die Buchauslage der ganzen Welt, die 90.000 Neuerscheinungen von Frankfurt, konnte niemand überblicken, aber die Grundtendenz war so unübersehbar wie die auf einer Wiese vorherrschenden Blüten: Abwendung von den Bedrohungen, Hinwendung zu dem.

was bedroht ist. Freilich am liebsten ohne besonderen Hinweis auf eben diese Tatsache der Bedrohtheit. Flucht vor dem, was noch kommt, in die Arme dessen, was noch ist oder schon war.

Selbst die schlimmen Geschichtsepochen haben ein Schönes — nämlich, daß sie vorbei sind.

Unter solchen Auspizien bekommt sogar die Zeitgeschichte eine Art von nostalgischem Touch. Zumal sie uns längst nicht mehr als Primärbericht, als nackte Zeugenschaft anspringt, sondem eher als Erinnerung an Erinnerungen. Selbst die ungekürzten Protokolle des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses kann man sich jetzt als Taschenbuchkassette für relativ wenig Geld ins Regal stellen, ebenso wie die „Meldungen aus dem Reich", die der Naziführung regelmäßig zur Kenntnis brachten, wie das Volk dachte.

Der Verdacht, der Kauf solcher Werke könnte eine Ersatzhandlung für wirkliches Sich-nahe-ge-hen-lassendarstellen, soll die Verdienste der betreffenden Verleger nicht schmälern.

Den großen Boom aber erlebt, vor allem in Form ungezählter Bildbände, all das, was der Mensch mit rasantem Tempo vernichtet: Die noch nicht kaputte Natur, die noch nicht zersiedelte Landschaft, die in Epochen gestaltete, vom Zugriff der Veränderungswut noch nicht erreichte Kulturlandschaft.

Es hat eine so spontane Rück-wendung des Blicks, solche Liebe zum Dahingehenden schon oft gegeben, unter anderem damals, als die Lawine der Veränderungen in Bewegung geriet — die vielen Schäferszenen des 18. Jahrhunderts, die idealisierten Darstellungen ländlichen Lebens, das war wie ein Abschiednehmen.

Auch der Boom der Bücher von Wäldern und Stränden, alten Gärten und Städten, der Boom der vielen Tierbücher hat fast den Charakter einer Bestandsaufnahme vor dem Untergang.

Oder einer Katalogisierung all dessen, was wir nicht verlieren wollen...

In der Literatur sind solche Strömungen schwerer zu fassen und nachzuweisen als das Wechselspiel von Moden und Massengeschmack als schnellster Seismograph umspringenden Lebensgefühls. Aber auch in der Literatur drückt sich deutlich eine Epoche aus, die aufgehört hat, das Neue als das schlechthin Richtige, Bevorrangte zu betrachten.

Die Literatur reagiert im Augenblick nicht so sehr mit Inhalten wie mit formalen Tendenzen, mit dem Streben nach „Klassizität", nach „Schönheit", mit der Zuwendung zu alten Dicht- und Erzählweisen. Lyriker dürfen neuerdings sogar wieder klassisch reimen.

Ein Schlaf auf dem Vulkan? Ein Schließen der Augen vor dem, was droht? Oder nach den großen Konfrontationen, die die Gesellschaft nicht gerechter gemacht, die Welt nicht befriedet haben, ein Versuch mit dem Gegenteil?

Die wenigen Autoren, die sich auf das Orwell-Thema der Buchmesse einließen, bescheinigen der Welt den Verlust der Konsensbereitschaft und den Mächtigen wenig Sinn für die Freiheit der anderen. Die Realität der Buchmesse war das Negieren dieser Realität. Entgegengehalten wurden ihr die Wünsche der Menschen. Guter Rat, was in diesem Sinne zu tun wäre, fehlt noch. Immer noch nahm er seinen Weg von den Köpfen über die Bücher in die Welt des Handelns. Wie's heute steht, ist er auch in den Büchern noch nicht zu finden.

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