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Blick übern Tellerrand

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Phantasie oder Pragmatismus, tonnenschwere Papiere oder festes Zupak-ken: Die beiden Großparteien haben sich jedenfalls für den Herbst Nachdenken verordnet.

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Phantasie oder Pragmatismus, tonnenschwere Papiere oder festes Zupak-ken: Die beiden Großparteien haben sich jedenfalls für den Herbst Nachdenken verordnet.

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Es paßt hervorragend und damit publikumswirksam ins Klischee der politischen Diskussion: Auf der einen Seite stehen die Phantasievollen, will heißen, die Kreativen, die Intellektuellen; auf der anderen Seite die Pragmatiker, die Macher, die Krisenmanager. Und beide Gruppen beäugen sich mißtrauisch, teils mißgünstig, jeder hält sich für den Besseren.

So wird es oft gespielt. Ist es so, muß es so sein, ja, darf es so sein?

Ohne Zweifel gibt es Phasen der Politik, in denen der eine Typ

mehr als der andere gefragt ist. Ohne Zweifel hat jeder politisch Handelnde eine stärkere Begabung und Schlagseite für eine der beiden Seiten.

Es wäre aber für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung verhängnisvoll, wenn der Abkoppe-lungsprozeß von Theorie und Praxis bewußt gefördert würde, wenn programmatisches Denken sozusagen als Spielwiese für die Paradeintellektuellen oder unbequeme Elemente oder als öffentlichkeitswirksame Beschäftigungstherapie zur Ablenkung von politischer Handlungsschwäche angesehen wird.

Verhängnisvoll wäre es weiters, wenn frustrierte Intellektuelle mit Absolutheitsanspruch auftreten und auch keine Gesprächsund Beratungsbereitschart mehr zeigen, weil boshafte und kleinkarierte Parteipolitiker nicht bereit sind, ihre hervorragenden Pläne buchstabengetreu umzusetzen.

Eine Diffamierung der Menschen mit Phantasie als Phantasten, die im elfenbeinernen Turm fernab vom sogenannten „wirklichen Leben" sind, hilft genausowenig weiter, wie die Aburteilung von Pragmatikern als zynische und kalte Techniker der Macht.

Sicherlich: Es gibt verbrauchte Typen, die generell Angst vor Neuem haben. Aber es gibt sie genauso wie manchen kritischen Geist, für den die Begriffe Interessenausgleich und Kompromiß als Verrat an der „guten Sache" erscheinen.

Gerade angesichts der Tatsache einer weithin verspürten Umbruchsituation (gleichgültig ob sie nun als Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts oder des Grundkonsenses in unserer Gesellschaft mit den Stichworten Krise der Wirtschaftsstruktur, Öko-Krise, Parteienverdrossenheit etc. beschrieben wird) muß Politik als Kunst des Möglichen Verantwortungs- und Gesinnungsethik zu vereinen trachten. Sie muß pragmatisches Handeln in Verfolgung programmatischer Ziele sein.

Es geht um eine schöpferische Dialektik von Phantasie und Realität.

Dies ist zweifellos der schwierigere und unattraktivere Weg als die erkannten Gräben zwischen Theorie und Praxis schlagzeilenträchtig anzuprangern. Es ist leicht, am Sonntag hehre Visionen von der schönen neuen Welt zu verkünden, die am politischen Wochentag wiederum von der vordergründig viel spannenderen Frage „Wie bringe ich wen mit welchem Steuerakt um" in den Hintergrund gedrängt werden.

Tonnenschwere Papierberge unbeachteter Programme und immer schneller sich häufende Problemberge der auf der Stelle tretenden Tagespolitik sind nur

geeignet, Glaubwürdigkeit zu untergraben, Politikverdrossenheit zu fördern und difusen grün-alternativen Protestkräften Auftrieb zu geben.

Es geht um einen Dialog mit den Phantasievollen, den Künstlern, den Sensiblen im allgemeinen — ohne modische Anbiederung, aber mit ehrlicher Aufgeschlossenheit. Toleranz und Verständigungsbereitschaft (auch im ganz banalen sprachlichen Sinne) sind auf beiden Seiten notwendig.

Aktion 20,1400 Experten, Pläne zur Lebensqualität etc. — Sind dies nicht alles entmutigende Erfahrungen?

Nicht bloß aus Lokalpatriotismus darf auf das Gegenbeispiel des Modell Steiermark hingewiesen werden, das für viele andere Bundesländerkonzepte Modell geworden ist und auch zu einem Versuch für ein Modell Österreich geführt hat.

Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wurde in größtmöglicher Offenheit unter Mitarbeit vieler parteiungebundener, ja auch parteiferner Fachleute und Wissenschafter das Modell Steiermark als erstes landespolitisches Langzeitprogramm erstellt. Eine solche Arbeit kann nur in einem gewachsenen Klima der Liberalität und in der schrittweisen Umsetzung in die Praxis gedeihen.

Dekorative Federin am Hut allein reichen nicht.

Daraus konnte letztlich auch für die ausgehenden siebziger Jahre, als die „Alles ist Mach-bar"-Euphorie in manchen intellektuellen Kreisen leider oft schon der „Rien ne va plus"-Ge-sinnung und der Lust am Untergang gewichen war, nach weitgehender Realisierung des Modells ein neuer programmatischer Aufbruch für das Modell Steiermark der achtziger Jahre erwachsen.

Der Vorzug der Demokratie ist es, Änderungen ohne Revolution

und Gewalttätigkeit zu ermöglichen. Die Demokratie braucht aber dazu die ständige Frischzellenkur neuer Ideen. Offenheit und nicht Versteinerung und Starrheit gewährleisten die Stabilität der Demokratie.

Es müssen daher auch unbequeme neue Formen und Inhalte der Politik aufgenommen werden, sollen nicht die Umwelt-Ayatollahs oder sonstige neue Heilsprediger längst veralteter Lehren ans Ruder kommen.

Vor allem gilt es, die Kreativität und Eigeninitiative des Menschen in allen Bereichen herauszufordern. Einige beispielhafte Markierungen:

• DieWeiterentwicklungderDe-mokratie, um dem Bürger mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben (dezentralisierte, regionale und lokale Volksbegehren, -be-fragungen und -abstimmungen nicht nur bei Gesetzen, sondern

auch bei Verwaltungsakten);

# nicht der finanzielle Abbau, sondern der menschliche Ausbau des Sozialstaates durch die breitgestreuten privaten kleinen Netze;

# eine Energiepolitik, die nicht so sehr auf zusätzliche Kraftwerkskapazität, sondern auf das Energiesparen als die wichtigste Energiequelle setzt (Energieverbrauchs- statt Energieversorgungspolitik).

Ätzende Bemerkungen über blutleere Intellektuelle und ausgeblutete Politiker, die ihren Blick nicht mehr über den Tellerrand der Tagespolitik hinaus richten können, sind zwar originell und publicityträchtig.

Aber: Nicht in der Konfrontation von kompromißlosen Praktikern und intellektuellen Glasperlenspielern, sondern nur in einem Bündnis, in der Kooperation von Phantasie und Praxis, in der Konzentration der Kräfte (auch als Regierungsmodell bei gleichzeitig wesentlich verstärkten Bürgerrechten) liegt ein realistischer und hoffnungsvoller Weg in die Zukunft.

Der Autor ist Pressereferent des Landeshauptmannes der Steiermark, Josef Krainer.

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