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Blicke hinter die Sowjet-Fassaden

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Christian Schmidt-Häuers Werk ,,Das sind die Russen“ ist - trotz Klaus Meh- nert - das beste, was aus deutscher Feder über die heutige Sowjetunion geflossen ist. Es braucht den Vergleich mit jüngster angelsächsischer Literatur nicht zu scheuen.

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Christian Schmidt-Häuers Werk ,,Das sind die Russen“ ist - trotz Klaus Meh- nert - das beste, was aus deutscher Feder über die heutige Sowjetunion geflossen ist. Es braucht den Vergleich mit jüngster angelsächsischer Literatur nicht zu scheuen.

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Sowjetischer Bildersturm mit halbhundertjähriger Verspätung. Das Gemälde hing noch vor drei Jahren in der Privatgalerie des griechischen Russen Georgi Ko- stakis am Moskauer Vernadski- Prospekt und nennt sich „Der Aufstand“. Es wurde im Jahre 1923 geschaffen und stammt aus der Hand des Künstlers Kliment Redko. Für die nächsten Dezennien wird es in den Kellern der Tret- jakow-Galerie wenn schon nicht vermodern, so doch vor den Augen der Sowjetbürger sicher sein.

Es ist eine Ikone Lenins mit futuristischem Anstrich. In der Mitte übergroß die Figur des Staatsgründers. Sensationell die Be-

gleitmannschaft in respektvollem Abstand.JDie Größe der Personen spiegelt ihre Wichtigkeit wider.

Da sind sie alle, die Volksfeinde, die in den Säuberungsprozessen ihre Schuld eingestanden haben, in der Ljubjanka erschossen oder von Meuchelmördern im Dienste des roten Despoten erschlagen worden sind: Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Pjatakow — und ganz hinten (also ganz unwichtig): der spätere Diktator und Liquidator Jossip Vissario- nowitsch Dschugaschwili, der sich Stalin nannte.

Auch das ist Rußland/Sowjet- union. Christian Schmidt-Häuer, dreieinhalb Jahre Radiokorrespondent in Moskau, beschreibt dieses künstlerisch großartige Dokument aus verbotener Epoche in allen Einzelheiten. Eines der vielen Gesichter, das der völkische Koloß im Osten bietet und

das dem ausländischen Beobachter Rätsel aufgibt.

Auf den Spuren des Sowjet-^ menschen der Breschnew-Ära. Der Anspruch ist hochgesteckt: das Wesen des Sowjetbürgers, wie er heute leibt und lebt, zu ergründen und darüber hinaus das von diesem geschaffene System zu durchleuchten. Dem -Autor gelingt es, hinter die Fassade zu sehen, erleichtert durch den freizügigen Beistand von Dissidenten und Systemkritikern, die sich von oben nicht den Mund verbieten lassen; und gleichzeitig alles nach Stichhältigem und Brauchbarem zu filtern, was die offizielle Schreibe an augenauswischender Kritik der eigenen Gesellschaft zu bieten hat.

Das Ergebnis ist ein dicht gezeichnetes Gemälde der Sowjetgesellschaft mit einer gigantischen Fülle dokumentierenden Materials. Eine blendende Feder verhindert, daß dem Leser diese Belege über das Maß des Erträglichen wachsen.

Die Ära Breschnew, so folgert Schmidt-Häuer, hat dem Bürger zwischen Brest und Wladiwostok

wohl die längste Periode der Stabilität seit der Oktoberrevolution beschert, doch es ist mittlerweile die Stabilität der Stagnation. Terror und Angst der Vorperioden sind verschwunden, doch damit auch der beflügelnde Glaube an die Heilslehre. Armee und Konsum sind Klammern, die das Gefüge heute Zusammenhalten.

Innere Schwäche und Auflösungstendenzen werden durch Monsterschauen, ideologische Aufrüstung und permanente Berieselung in Sachen Leninismus nach innen, durch imperiale Expansion nach außen kompensiert. Das ist nicht neu, gehört aber unbedingt in das Globalbild des östlichen Riesen.

Das Bestechende des Buches liegt in der Begegnung mit dem russischen Menschen, seiner von oben geschuriegelten Kultur, der Beschreibung von Kanälen, die Iwan und Natascha zustehen, um aus der Einförmigkeit des sowjetrussischen Alltags - und der materiellen Armut zu entfliehen.

Hier eine impotente Wirtschaft, der es nicht gelingt, die Lücken zu schließen, die im größten Stil verschleudert und für den Hausgebrauch abzweigt, was es zu klauen gibt. Dort der graue und schwarze Markt, der den übergroßen Konsumhunger wenigstens teilweise und zu schwindelerregenden Überpreisen stillt.

Die Delikatesse liegt im Report der Kulturszene, nicht des allein approbierten sowjetischen kraftstrotzenden Biedermeiers, der überladenen, altmodischen Theaterwelt, sondern jener im Schlagschatten des Geduldeten, oder im Dunkel des Verbotenen.

DAS SIND DIE RUSSEN. Wie sie wurden, wie sie leben. Von Ch ristian Schmidt-Häuer. Albrecht Knaus Verlag, Hamburg 1980. 416 Seiten, Ln., öS 288.80.

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