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Blühen in Dürre

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In Osteuropa macht sich ein ideologisches Vakuum breit. In der geistigen Dürre des Systems, im Leer-Raum seiner Lehre, blüht eine wachsende Religiosität auf.

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In Osteuropa macht sich ein ideologisches Vakuum breit. In der geistigen Dürre des Systems, im Leer-Raum seiner Lehre, blüht eine wachsende Religiosität auf.

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Einer der wichtigsten Faktoren für die innere gesellschaftliche Entwicklung Osteuropas in der Zukunft wird einerseits das sich ausbreitende „ideologische Vakuum“ sein, andererseits die Auffüllung dieses Leer-Raums durch Kräfte, die der kommunistischen Lehre fremd sind: Dazu gehört sicherlich die wachsende Religiosität in den Ländern des Warschauer Paktes, für die sich gerade in letzter Zeit wiederum zahlreiche Belege anführen lassen.

Der polnische Kardinal-Primas Josef Glemp hat erst unlängst im „Przeglad Katolicki“ auf den nur scheinbar paradoxen Umstand aufmerksam gemacht, daß die ideologische Konfrontation mit dem kommunistischen System die Kirche im Land an der Weichsel nur stärker gemacht habe.

Was im Falle Polens - mit seiner tief im Volk verankerten Kirche — noch einsichtig erscheint, gilt aber auch für den südlichen Nachbarn, die CSSR, wo eine unverändert repressive Kirchenpolitik ebenfalls nur kontraproduktiv zu wirken scheint.

An den Angaben des ehemaligen Staatssekretärs für religiöse Angelegenheiten in der CSSR, Karel Hruza, bei einem Vortrag für Arbeiter der Baustoff-Industrie sollte man kaum zweifeln: Demnach werden in der Slowakei noch immer 71 und in Böhmen und Mähren über 30 Prozent der Neugeborenen getauft, und auch der Prozentsatz kirchlicher Trauungen oder Beerdigungen ist unverändert hoch. Sogar Beamte des Staatssicherheitsdienstes, so klagte Hruza, nähmen an kirchlichen Zeremonien teil.

Aus der Sicht des Regimes in Prag besonders alarmierend muß der Umstand wirken, daß sowohl Kardinal Frantisek Tornasek als

auch der in Rom tätige slowaki-

sehe Bischof Dominik Hrusovsky ein steigendes religiöses Interesse der Jugendlichen in der Tschechoslowakei feststellen können, was der gestreßte Sicherheitsapparat wohl leicht bestätigen könnte.

In Ungarn, mit seiner relativ liberalen Kirchenpolitik und einer nicht immer mutigen Kirchenführung, hat die religiöse Renais-

sance ebenfalls stattgefunden -ohne Repression und massive Verfolgung als Stimulans zu brauchen.

Der Chefredakteur der Budapester Tageszeitung „Magyar Nem-zet“, Istvan Soltesz, hat unlängst eingeräumt, daß in Ungarn die Religion „gefragt“ sei. Man wolle daher bei dem für die Zukunft angestrebten Demokratisierungsprozeß „alle guten Werte, die die Menschheit im Laufe der Jahrtausende entwickelt habe“, darunter auch die Religion, integrieren und sich entwickeln lassen. Religiöses Leben und religiöse Ethik müßten in Ungarn ihren Platz finden und in Anspruch genommen werden können.

Die Zulassung eines neuen

Frauenordens, ein schon bis 1987 ausgebuchtes Exerzitienhaus der Jesuiten in Leanyfalu sind weitere Indizien für die Hinwendung vieler Menschen zur Kirche.

In Rumänien, wo das Regime Nicolae Ceausescus einen harten kirchenpolitischen Kurs steuert, sind die „Erfolge“ aus kommunistischer Sicht auch eher gering. Der Professor an der katholischen Kirche in Iassy, Vladimir Peterca, konnte unlängst im Westen berichten, daß es in seiner Diözese ein blühendes religiöses Leben gäbe. 80 Prozent der Katholiken besuchten die Gottesdienste, alle Kinder aus religiösen Familien würden getauft, es gäbe genügend Priesternachwuchs.

Die geistige Dürre, die der Marxismus-Leninismus durch phrasenhafte Wiederholung in der geistigen Landschaft Osteuropas verbreitet hat, die Erziehung der Jugend zu „grenzenloser Ergebenheit gegenüber der Partei“, wie es eine Konferenz der ZK-Sekretäre der kommunistischen Parteien Osteuropas auf einer Konferenz in Budapest Ende des vorigen Jahres forderte, leistet vermutlich nur der „Ent-Ideolo-gisierung“ weiteren Vorschub. Beides begünstigt aber auch, gerade in Gesellschaften, die „wissenschaftlich“ marxistisch-leninistisch geführt werden, die Sehnsucht nach neuem Sinn und anderen Werten.

In dem jüngsten Dokument der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ über die Jugend wird in diesem Zusammenhang Albert Einstein zitiert: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnis. Wer es nicht kennt und wer es nicht mehr versteht, sich zu wundern und zu staunen, ist eigentlich tot und sein Auge erloschen.“

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