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Böhmische Perestrojka

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„Sluäovice“ ist ein magisches Reizwort für alle unternehmungslustigen Tschechen und Slowaken. Von Neidern wie Bewunderern gleichermaßen als „Hort des Kapitalismus“ etikettiert, galt die ostmährische Agrargenossenschaft Sluäovice lange Zeit als gewinnträchtiges Kuckucksei im Nest des

Realsozialismus. Obwohl offiziell als landwirtschaftlicher Betrieb geführt, erwirtschaftete der Agrar-betrieb seine vier Milliarden Kronen Jahresumsatz nur zu einem geringen Teil (fünf bis sieben Prozent) aus der Landwirtschaft. Der Paradebetrieb ist überaus rührig: Computer samt Programmen werden ebenso hergestellt wie Bio-Lebensmittel. Man sponsert Ral-leyfahrer, züchtet Rennpferde, betreibt Recycling und vieles andere mehr. Besonderer Leckerbissen: Die Genossenschafter dürfen selbständig Geschäfte mit dem Westen betreiben und den Großteil der Devisen der eigenen Kasse zuführen. Mit einem Stab von guten Juristen wurden die starren Regelungen der Planwirtschaft umgangen, Gesetzeslücken ausgenützt. Beste Kontakte zur Parteispitze deckten die waghalsigen Manöver.

Nun soll Slusovice Konkurrenz bekommen. Anfang Jänner 1990 tritt eine neue Regelung in Kraft, die anderen Betrieben und Genossenschaften ähnliche Möglichkeiten, an denen bisher Slusovice allein gedieh, eröffnet. Die amtliche Beschwörungsformel von „Prev-stavba“, dem wirtschaftlichen Umbau, bekommt somit in unserem nördlichen Nachbarland Substanz. Damit der Tatendrang nicht außer Rand und Band gerät, wird das Handelsvolumen bei Auslandsgeschäften auf 30 Millionen Devisenkronen pro Jahr und Betrieb begrenzt bleiben. Höhere Umsätze bedürfen weiterhin einer Sondergenehmigung.

Daß die böhmische Version von Perestrojka sich gerade auf dem Genossenschaftssektor kristallisiert, kommt, nach. Ansicht von Zdenek Lukas, dem CSSR-Exper-ten des Wiener Institutes für Internationale Wirtschaftsvergleiche, nicht von ungefähr. Das traditionsreiche Genossenschaftswesen in der Tschechoslowakei konnte die Machtergreifung durch die Kommunisten im Jahre 1948 relativ unbeschädigt überstehen. Während die Staatsbetriebe konstant an Motivationskrisen der Beschäftigten leiden, konnten die Genossenschaften ihre Identität, den Zusammenhalt der Mitarbeiter, die Leistungsmotivation „ hinüberretten“. Die über Jahrzehnte aufgebauten Strukturen bestanden die Belastungsprobe des ideologischen Spalt- und Fäulnispilzes.

Das östliche Mangelsystem leidet nicht nur an geringer Produktivität sondern auch an der schlechten Zulieferung: Viele Erzeugnisse bleiben liegen, kommen nicht an den Mann/die Frau. Diese Lücke wird durch die Genossenschaften -zumindest teilweise - gefüllt. Bäuerliche Genossenschafter können das Doppelte oder mehr an Monatsgehalt verdienen, wenn sie beispielsweise ihre Äpfel oder Weintrauben in abgelegene Ortschaften selber hinkarren.

Landesweit sind fast eine Million Menschen im Genossenschaftssektor beschäftigt. Dabei liegt die Landwirtschaft mit 646.000 Beschäftigten an der Spitze, gefolgt vom Dienstleistungsgewerbe. Auch spezifische Marktlücken auf dem Produktionssektor werden durch Genossenschaften abgedeckt. So stellt der Betrieb „Snaha“ händisch angefertigte Schuhe auf Bestellung her. Auch der Wohnungsbau ist fast zur Hälfte in genossenschaftlichen Händen.

Ein großes Problem, das die wirtschaftliche Initiative entscheidend behindert, ist der geradezu krankhafte E'galitarismus in Sachen Lohnpolitik. Wer mehr arbeitet, soll auch mehr verdienen - diese Weisheit muß sich erst durchsetzen. Wenn das Jahreseinkommen 80.000 Kronen übersteigt - Durchschnitt ist 36.000 Kronen jährlich - tritt eine Besteuerung in Kraft, die einer Konfiskation gleichkommt. Als in Nordböhmen in einer Maschinenfabrik eine Brigade Schweißer Höchstleistungen erbrachte und der Firmenchef ihren Fleiß mit der Verdoppelung des Gehalts belohnen wollte, ergrimmten die anderen Arbeiter derart über diese „Ungerechtigkeit“, daß die Firmenleitung das Gehalt wieder auf die üblichen 3.000 Kronen reduzierte. Als Entschädigung durften die Schweißer um ein Uhr nach Hause gehen - zum Kaninchenzüchten.

Als Bumerangeffekt erwies sich oft auch das neueingeführte Prinzip der „Selbstfinanzierung“ der Betriebe, wenn es um die Modernisierung der Anlagen kontra Umweltschutzeinrichtungen geht. Im Zweifelsfall, und der tritt häufig ein, fehlt das Geld für Filter oder Kläranlagen.

Als „Rüde Pravo“ in einem Bericht über die Magnesitwerke in Jelsava und Lubenik die Betriebsführimg wegen der Verwüstung der Umwelt rüffelte - man hätte eine „blühende Gegend in eine Mondlandschaft verwandelt“, hieß es da :(i reagierte die Firmenleitung gereizt. Man wolle doch sofort mit der Behebung der Schäden beginnen, „aber niemand kann uns sagen, von wem und wieviel Geld wir dafür bekommen!“.

Ob die Anfang Jänner in Kraft tretenden neuen Regelungen eine wesentliche Belebung der Wirtschaft bringen werden, bleibt abzuwarten. Bisher brachten die Reformansätze zweifelhafte Resultate - nach dem Muster „zwei glatt, zwei verkehrt“.

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