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BOMBENSCHMETTERLINGE UND GEKRÖNTE VOGEL

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Ein Gespenst geht um in Europa: die multikulturelle Gesellschaft - von manchen ersehnt, von einigen abgelehnt. Aber gibt es eine Alternative zu ihr in einem gemeinsamen Haus Europa? Ein Gespenst flößt nur so lange Angst ein, als man es nicht kennt. Was war, ist oder könnte multikuturell also sein? Redaktionelle Gestaltung: Harald Klauhs

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Ein Gespenst geht um in Europa: die multikulturelle Gesellschaft - von manchen ersehnt, von einigen abgelehnt. Aber gibt es eine Alternative zu ihr in einem gemeinsamen Haus Europa? Ein Gespenst flößt nur so lange Angst ein, als man es nicht kennt. Was war, ist oder könnte multikuturell also sein? Redaktionelle Gestaltung: Harald Klauhs

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Von der Voraussetzung ausgehend, die Wassily Kandinsky im Jahr 1912 in der Zeitschrift „Der blaue Reiter" formuliert hat, daß Kinder „außer der Fähigkeit, das Äußere zu streichen" auch „noch die Macht" haben, „das gebliebene Innere in eine Form zu kleiden", muß den Kinderzeichnungen besonderes Augenmerk gewidmet werden, wenn es um Fragen der Multikulturalität geht.

Da spiegeln sich nicht nur individuelle psychische Zustände wider, die von Angst und Freude künden, sondern auch Phänomene, die alle Menschen in der Gesellschaft zu ertragen haben. Einerseits die Irritation der einheimischen Bevölkerung durch die Fremden beziehungsweise das Fremde, das sich in zahlreichen kulturellen Erscheinungen manifestiert, andererseits die Verunsicherung der zugewanderten Menschen, die deutlich die Ablehnung spüren, die ihnen von den Alteingesessenen und Assimilierten entgegengebracht wird.

Jene Eltern, die erregt in die Schule stürzen und den Lehrer unmißverständlich auffordern, ihr Kind von dem „Tschuschen" wegzusetzen, stammen nicht selten selbst aus einem der Länder, die früher Jugoslawien genannt wurden, nur haben sie durch ihr Leben in Österreich bereits die neue Staatsbürgerschaft angenommen und wollen an die ursprüngliche Herkunft nicht erinnert werden. Solch eine Verunsicherung - welches Kind hört nicht, daß die eigenen Eltern ein anderes Deutsch sprechen als die anderen Österreicher - müßte sich in der Zeichnung erkennen lassen. Doch noch fehlt jede wissenschaftliche Darstellung dieser Phänomene.

Zwar lassen Lehrer gern die Kinder die eigene Familiensituation in metaphorischer Weise darstellen, indem sie die Aufgabe stellen: Wärst du ein Zauberer oder eine Fee, in welche Tiere würdest du deine Familie verwandeln und welches Tier wärst du selber? Bei Betrachtung unter diesem Blickwinkel ist die Zeichnung des achtjährigen aus der Türkei stammen-den Haldun aufschlußreich. Welche Leere zwischen Himmel und Erde! Der tiefe Horizont, auf dem ein Mensch steht, der von einem Hund angeknurrt wird, der fast die Größe des Kindes erreicht. Der unter dem Himmel fliegende Vogel gleicht eher einem Düsenjäger als einem natürlichen Wesen und vier Schmetterlinge erinnern an herabfallende Bomben. Es braucht nicht allzu viel pädagogischen Verständnisses um erkennen zu können, in welch extremer Situation der kleine Haldun lebt. Deutlicher kann man fast nicht um Hilfe rufen.

Daneben wirkt die Zeichnung der gleichaltrigen Sissy wie ein Gruß aus einem Kinderparadies: Die gekrönten Vögel, die über den Himmel ziehen, die Haustiere, das Haus, alles deutet auf eine beschützte und damit Sicherheit gebende Lebenssituation hin. Gewiß, so einfach läßt sich nicht vergleichen, und Schlüsse von Einzelschicksalen auf Lebenssituationen im allgemeinen sind nur mit größter Vorsicht möglich. Und doch sollte man sich hüten, die einzelnen Zeichnungen als Ergebnisse von Zufälligkeiten zu werten.

Das wird am deutlichsten an dem Blatt erkenntlich, das den Krieg zum Gegenstand des Zeichnens macht. Seit dem Golfkrieg und den militärischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien zeichnen sowohl in- als auch ausländische Kinder jene Bilder, die sie über das Fernsehen und die Printmedien vermittelt erhalten. Ihre Darstellung ist Teil einer psychischen Bewältigung, die aufhorchen lassen sollte: Mit welchem Verständnis für Probleme anderer Kulturen werden diese Menschen später einmal ausgestattet sein, wenn als Antwort auf die Aufforderung, „male dein Traumafrika", Kinder umgehend Kriegsszenen zu zeichnen beginnen. Ähnliche Ergebnisse lassen sich erzielen bei der Nennung von Irak, Türkei, Iran, Jugoslawien.

Um andere Inhalte in sich wachrufen zu können, bedürfte es erst der Vermittlung derselben. Was die meisten Unterrichtenden vor die große Frage stellt: Wie? Das Angebot an Lehrmaterialien über jene Kulturen, aus denen die Zuwanderer nach Österreich strömen, ist gering. Die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder mit der Vorstellungs weit fremder Kulturen konfrontieren zu lassen, gering. Die Antworten auf die Frage der Lehrer, welche Lehrausgänge während des Jahres durchgeführt werden sollten, gehen meistens über das Naturhistorische oder Historische Museum nicht hinaus. Kaum jemals wird das Museum für Völkerkunde für solch einen Lehrausflug ins Auge gefaßt.

Nicht anders ergeht es ambitionier-ten Lehrern, die kulturellen Reichtum der Schüler aus verschiedenen Ländern nützen wollen. Welchen Platz könnte der Bericht eines Kindes, dessen Mutter zum Beispiel aus Bali stammt, einnehmen, das von seiner Musik spricht, die in metaphorischer Weise in den Klängen der Gonge das Tropfen des Wassers aus den Bambusröhren wiedergibt? Welchen Gewinn könnten Kinder für ihr Leben haben, in solch einer Musik nicht bloß Lärm, sondern auch eine für sie fremde Heimatempfindung erahnen zu können! Doch welcher Lehrer weiß schon von diesen Verhältnissen?

So bleibt wohl als wichtigste Forderung: Die Welterfahrung der Kinder in ihren Zeichnungen auszuwerten, um festzustellen, unter welchen Defiziten sie leiden. Defizite, die sie wahrscheinlich gar nicht in Worte fassen können.

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