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Boses Erwachen

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Über Ungarn, der lustigsten „Baracke“ im Ostblock, wetterleuchtet eine ökonomische Krise. Die Partei ist alarmiert und sucht nach Lösungen -sogar bei Goethe.

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Über Ungarn, der lustigsten „Baracke“ im Ostblock, wetterleuchtet eine ökonomische Krise. Die Partei ist alarmiert und sucht nach Lösungen -sogar bei Goethe.

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Rein äußerlich scheint die Welt im Magyarenland noch in Ordnung, eine Art „kapitalistisches“ Schaufenster mit Glanz und Glitter im Planungsgrau Osteuropas. In der Budapester Innenstadt gibt es seit kurzem einen exklusiven Schönheitssalon, der mit der renommierten französischen Weltfirma „L'Oreal“ gemeinsam betrieben wird. Ein „gemischtes Unternehmen“ (Joint venture) nach dem anderen, jüngst sogar mit einer japanischen Firma, schießt aus dem Boden. Die Gründung einer Regenwurm-Zuchtfarm scheint nur zu bestätigen, daß sich die Magyaren - wie auch in den vergangenen Jahren - geschickt in Exportnischen zwängen und Devisen verdienen können, weil sie marktorientiert denken.

Aber das Bild täuscht. Ungarns experimentierfreudige und reformierte Wirtschaft befindet sich seit ein, zwei Jahren in einem Krisenstrudel und kommt—trotz heftigen Ruderns - nicht mehr aus dem Sog heraus. Parteifunktionäre und Wirtschaftsplaner sind aufgeschreckt, ihre pessimistischen und kritischen Einschätzungen sind inzwischen Legion geworden — und die allgemeine Ratlosigkeit auch.

Schon im April, nach den niederschmetternd ungünstigen Wirtschaftsdaten des ersten Vierteljahres 1986, meinte ZK-Sekretär Ferenc Havasi: „Wann sollen wir Alarm geben? Können wir noch zwei Monate zuschauen, ohne etwas zu tun, in der Hoffnung, daß sich die Dinge ändern und • noch ein Wunder passiert? Nein, es ist Zeit, aufzuwachen! Aber vielleicht ist es schon zu spät.“

Vizepremier Joszef Marjai mußte Ende Juni dann freilich einräumen, daß sich die „ungünstigen Tendenzen“ weiter fortsetzen. Vom dreiprozentigen Wachstum in der Industrieproduktion, wie es der Plan für 1986 vorsieht, kann keine Rede mehr sein; die Investitionen sind im Vergleich zum Vorjahr nur um ein Prozent gestiegen; der Außenhandel lahmt; unwirtschaftlich arbeitende Un- j ternehmen belasten das Budget.

Uber die Ursachen der sich immer deutlicher abzeichnenden Misere herrscht weitgehend Rätselraten, einige sind geortet: • Der ölpreisverfall schädigt auch Ungarn. Es importiert rund sieben Millionen Tonnen Erdöl aus der UdSSR — zu derzeit hohen Preisen, weil Moskau sich am Durchschnitt der Weltmarktpreise in den vorangegangenen fünf Jahren orientiert. Da Ungarn aber verarbeitete Erdölprodukte in den Westen ausführt und auch die magyarische Chemie-Industrie, die 1985 an die 900 Millionen Dollar in Devisen verdiente, auf teures Sowjetöl angewiesen ist, ergeben sich auf Grund der Weltmarktsituation drastische Verluste.

• Trotz aller Anstrengungen hat es Ungarn im vergangenen Fünfjahresplan (1981-1985) nicht geschafft, die Industrie ausreichend zu modernisieren: Von den Exporterzeugnissen für die entwik-kelten westlichen Länder sind nur sechs Prozent Maschinen, 40 Prozent aber Rohmaterialien oder Halbfertigwaren.

• Die vier Krisenbranchen — die Hüttenindustrie, der Kohlebergbau, die fleischverarbeitende Industrie und der Hochbau — verschlingen Subventionen in Milliardenhöhe und zehren damit die eigentlich dringend benötigten Investitionsmittel aus.

• Auch eine zunächst als intelligent und segensreich eingeschätzte Wirtschaftsreform, nämlich die Zulassung innerbetrieblicher Arbeitsgemeinschaften — eine Art legalisierter Pfusch — erweist sich nun als katastrophal. Die Zeitung „Nepszava“: „Der Stellenwert der Hauptarbeitszeit muß wiederhergestellt werden.“ Vizepremier Marjai: „Die Festigung der Arbeitsdisziplin ist eine Aufgabe, die keinen Aufschub mehr duldet.“

Auch anhaltend defizitäre Unternehmen will der Staat ab 1. September nicht mehr subventionieren und mitschleppen - ein neues Konkursrecht tritt in Kraft und damit auch temporäre Arbeitslosigkeit als ökonomisches Mittel.

Wieweit das alles greifen wird, ist derzeit zweifelhaft. Planungschef Miklos Faluvegi rechtfertigt nach wie vor seine optimistischen Planziffern und ruft dafür sogar den alten Geheimrat Goethe zu Hilfe: „Wer nicht das Unmögliche versucht, wird selbst das Mögliche nicht erreichen.“

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