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Brandts Zeitbombe

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„Über den Tag hinaus”, nannte Ex-Bundeskanzler Willy Brandt sein eben zur bevorstehenden Frankfurter Buchmesse fertiggewordenes Buch, das, seinem altmodisch-poetischen Titel zum Trotz, in Bonn als „Zeitbombe” klassifiziert wurde. Denn die Ankündigung des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel”, daß in diesem Buch, das zum Großteil aus eher trockenen Betrachtungen über Innenpolitik des innenpolitisch nie sehr beeindruckenden Brandt bestehen soll, auch Fragen des überraschenden Kanzlerrüektritts behandelt werden, hat, vor alląm in den Regierungsparteien, für Aufregung gesorgt.

Als wolte Brandt dem Titel seines Buches gerecht werden, greift er die Umstände seines — je nach Blickwinkel — Sturzes oder Rücktritts auf, ehe noch kaum ein halbes Jahr verstrichen ist, und liefert damit allen Spekulationen über die Umstände dea Kanzlerwechsels neues Material. Ausgerechnet Brandt, der den Rücktritt rasch und ohne Vorwürfe gegen irgend jemand vollzogen hat, nährt jetzt alle jene Gerüchte, wonach der eine oder andere führende SPD- oder FDP-Politiker entscheidend zu seinem Rücktritt beigetragen hätte.

Die wenigen bisher vom „Spiegel” veröffentlichten Zitate, die vermutlich die schärfsten und brisantesten Stellen darstellen, lassen zumindest die Vermutung zu, daß sich Brandt von Wehner zum Rücktritt getrieben sah. Genscher scheint der Vorwurf zu treffen, als verantwortlicher Innenminister den Kanzler über die Verdachtsmomente gegen den Kanzlerreferenten und DDR-Spicm Guil- laume nicht ausreichend unterrichtet zu haben.

Während die Vorwürfe gegen Weh ner noch völlig auf der Linie der letzten Wochen liegen, die von einem gespannten bis frostigen Verhältnis zwischen Wehner und Brandt gezeichnet waren, bedeuten die Vorwürde- gegen Genscher innenpolitischen Sprengstoff. Folgt man der Lesart des „Spiegels”, der die Brandt-Texte mit vielen eigenen Recherchen und Vermutungen angereichert und teilweise exegesiert hat, so treibt Brandt mit seiner Darstellung der Ereignisse vor seinem Rücktritt einen Keil in die ohnedies angeknackte FDP-SPD-Koalition.

Brandt selbst bemühte sich in-, zwischen zwar massiv, den Eindruck zu zerstreuen, daß er Genscher angreifen wolle. Vergleicht man diese Genscher exkulpierenden Bemerkungen mit denen, die die Rolle Wehners ergänzend zu den „Spiegel-Veröffentlichungen präzisieren sollen, so besitzen sie einige Glaubwürdigkeit. Zwar dürfte Genscher Willy Brandt nur sehr unzureichend über die Verdachtsmomente gegen Guil- laume unterrichtet haben, aber kaum aus Vorsatz, sondern aus eigener Unkenntnis und Fehleinschätzung der Lage. Es entspräche auch einer politischen Instinktlosigkeit sondergleichen, wenn Brandt den Koalitionspartner durch Angriffe auf deren führenden Mann, der demnächst als Nachfolger Scheels zum Parteivorsitzenden gewählt werden soll, ver- prellen wollte.

Gerade einem mehr mit langfristigen Konzeptionen für seine Partei befaßten Parteivorsitzenden Brandt sollte klar sein, daß die SPD nur in Partnerschaft mit der FDP an der Macht bleiben kann. Eine Attacke gegen die ohnedies kränkelnde FDP wäre gerade jetzt, da in FDP-Kreisen die Vision einer CDU/CSU-FDP- Koalition Anhänger findet, auch und gerade für die SPD sehr schädlich.

So wird denn auch vermutet, daß Brandts Attacke, wenn sie überhaupt, von ihm selbst geplant und in ihren Auswirkungen abgeschätzt worden ist, in erster Linie Wehner gelten sollte. Die Vorwürfe Brandts wegen der unzureichenden Arbeit der Sicherheitsorgane, die oberflächlich gegen deren Chef Genscher gerichtet sind, träfen ebenfalls den zunehmend ins Schlußfeld geratenen Herbert Wehner. Denn sie würden dann vor allem dem Chef des Bundesverfassungsschutzes Nollau gelten, der als Schützling Wehners bekannt ist.

Ob nun nur Wehner oder auch Genscher getroffen werden sollten — in jedem Fall zeigt die Tatsache, daß Brandt die Umstände seines Rücktritts bereits jetzt behandelt und dabei zumindest Verdachtsmomente gegen den einen oder anderen Prominenten weckt, daß Brandt seinen Sturz vom Kanzlersockel noch nicht überwunden hat.

Da mit Brandts Veröffentlichung die Händel an der Spitze der SPD nun bereits vor aller Augen ausgetragen werden, wächst die Kritik am

SPD-Vorsitzenden aus den -eigenen Reihen. Leicht könnte es dem, so ein führender Sozialdemokrat, „beleidigten Denkmal” passieren, daß Brandt weiter an seinem Abgang arbeitet. Helmut Schmidt hält sich zwar auch hier zurück wie in der Affäre Wienand-Wehner, doch bleibt zu fragen, wie lange er mit einem Parteivorsitzenden und einem Frak- tionsführer, die offensichtlich heillos zerstritten sind, noch operieren kann.

Vorerst hat Brandt versucht, die durch die Vorveröffentlichungen aus seinem Buch entstandenen Unruhen aus der Welt zu schaffen. Dem „Spiegel” wurde vorgeworfen, daß er Brandts Andeutungen eindeutig interpretier» habe: Die zumindest zweideutigen Formulierungen seien alle gar nicht so gemeint.

Im übrigen würden Genscher und Brandt noch vor dem vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschuß über die Umstände bei der Einstellung Guillaumes als Kanzlerreferent aussagen. Bis dahin — vermutlich kurz vor den Landtagswahlen in Hessen und Bayern — wird die Gerüchteküche in Bonn, in der gerade Brandt kräftig mitheizt, weiter brodeln.

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