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Bratteli im Sog

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Unter dem Eindruck der Wahldramatik in Schweden sind die keineswegs weniger bedeutungsvollen politischen Ereignisse in Norwegen für die Weltpresse zu Geschehnissen zweiten oder dritten Ranges geworden. Sehr zu Unrecht, denn wenn ein Wechsel an der Macht in Schweden zu einer strategischen Gewichtsverlagerung im Norden führen kann, so kann der Linksruck in Norwegen genau dieselben Folgen für das politische Gleichgewicht in diesem Teil der Welt haben, nur zuungunsten des westlichen Bündnissystemes. Es kann nun einmal nicht übersehen werden, daß die sozialistische Linke Norwegens nach ihrem überraschend großen Wahlerfolg auf die Führung der Außenpolitik Norwegens einen größeren Einfluß ausüben wird als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Denn der eigentliche Sieger der kürzlich stattgefundenen norwegischen Parlamentswahlen war der erst wenige Monate vorher gegründete „Sozialistische Wahlverband“, der bei seiner ersten Wahlbeteiligung 238.000 Stimmen und 16 Mandate erringen konnte. Zum Vergleich kann genannt werden,, daß die bei den Wahlen ebenfalls recht erfolgreiche „Christliche Volkspartei“ des Regierungschefs Lars Korvald nur 14.000 Stimmen mehr, oder alles in allem 252.000 Stimmen und 20 Mandate, erreichen konnte. Die Arbeiterpartei fiel gleichzeitig von 1,004.000 Stimmen auf 757.000 Stimmen zurück, verlor also ein Viertel ihrer früheren Anhängerschaft. In Mandaten gerechnet beträgt ihr Verlust allerdings nur 12 von 74, da das norwegische Wahlgesetz die größeren Parteien begünstigt.

Die Kerntruppe des „Sozialistischen Wahlverbandes“ besteht aus der „Sozialistischen Volkspartei“, die Anfang der sechziger Jahre von dem früheren Sozialdemokraten Finn Gustavsen gegen die NATO-freund-liche Politik der Arbeiterpartei gegründet worden ist. Diese kleine Gruppe hatte jedoch niemals mehr als zwei Mandate im Parlament und war dort seit dem Jahre 1969 überhaupt nicht mehr vertreten. Die Kommunistische Partei Norwegens, die ebenfalls im „Sozialistischen Wahlverband“ Unterschlupf gefunden hat, hatte 1945 elf Mandate erringen können, verlor aber schon 1961 ihren letzten Sitz im Parlament. Zu diesen beiden Gruppen gesellten sich in den Sommermonaten dieses Jahres noch viele von jenen Sozialdemokraten, die glaubten, die Europamarktpolitik Brattelis nicht mehr unterstützen zu können. Einen weiteren Zuzug erhielt die Linke, als bei der Nominierung der Kandidaten zur Parlamentswahl von der Leitung der Arbeiterpartei Gegner der EWG-Mitgliedschaft Norwegens übergangen oder an aussichtslose Stellen ge-

setzt wurden. Das Resultat war das Auftauchen einer starken linkssozialistisch-kommunistischen Gruppe im Parlament. Der aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzte

„Wahlverband“ wird allerdings Mühe haben, seine politischen Ziele im Stortinget zu verfolgen und gleichzeitig Bratteli vor dem Sturz zu bewahren, sind doch die Gegensätze im sozialistischen Lager unverändert groß und erschienen sie unter der Regierungszeit Brattelis oft unüberbrückbar.

Am Freitag, dem 12. Oktober, wird der Sozialdemokrat Trygve Bratteli zum zweitenmal die Führung der Regierung übernehmen. Nach einem Verlust von zwölf Mandaten kann Bratteli überhaupt nur mit Hilfe des linkssozialistischen Wahlverbandes regieren; doch auch die 16 Stimmen dieser etwas bunt zusammengewürfelten Gruppe geben ihm im Stortinget nur eine Mehrheit von 78 zu 77. In Norwegen hat man rechtzeitig die Mandatszahl von 150 auf 155 erhöht, so daß eine so beschwerliche Patt-Stellung wie in Schweden nicht auftreten kann. Innerhalb der Arbeiterpartei wird eine lebhafte Diskussion über den einzuschlagenden Kurs geführt. Einflußreiche Mitglieder des Parteivorstandes, unter ihnen vor allem der Stellvertretende Vorsitzende der Partei, Reinulf Steen (den man vielerorts

schon als den Nachfolger Brattelis bezeichnet), drängen auf eine Zusammenarbeit mit der linkssozialistischen Gruppe im Parlament. Die enge Zusammenarbeit mit den Konservativen in der Europamarktfrage hat innerhalb der Anhängerschaft der Arbeiterpartei tiefe Gräben aufgerissen und auch das bürgerliche Lager so zersplittert, daß von diesem derzeit keine Initiative zur Erneuerung der norwegischen Politik erwartet werden kann.

Bratteli kann nicht auf eine ständige Stimmenhilfe der Linkssozialisten rechnen, wenn er sich

nicht bereit erklärt, auch den Gesichtspunkten der Linkssozialisten in Fragen der „Gesellschaftspolitik“ nachzugeben. Das führende Organ der Arbeiterpartei, „Arbei-darbladet“ in Oslo, befürwortet eine Zusammenarbeit mit den Linkssozialisten.

Bratteli, der bisher die Zusammenarbeit mit den Linkssozialisten abgelehnt und auch in bezug auf die Europamarktpolitik nicht kapituliert hat (obwohl seine Partei natürlich dem von der Regierung Korvald mit der EWG-Leitung in Brüssel ausgehandelten Handelsvertrag zugestimmt hat), wird zwischen einer Annäherung an die Linke oder einem neuen schweren Konflikt innerhalb seiner eigenen Partei zu wählen haben. Alles spricht deshalb dafür, daß er versuchen wird, die so einflußreich gewordene Linksgruppe mitverantwortlich zu machen, was sowohl durch ein Einbeziehen der Gruppe in die Regierungsarbeit als auch durch ein Abkommen mit ihr, ohne ihre direkte Regierungsteilnahme, geschehen könnte.

Man kann erwarten, daß Bratteli bis zum nächsten ordentlichen Parteikongreß, der erst 1975 stattfinden soll, Parteivorsitzender und Führer der Regierung bleiben wird. Auch im bürgerlichen Lager betrachtet man das als die beste Lösung in

einer völlig verfahrenen Situation. Die Rechtsparteien sind zersplitterter als je zuvor, und die Möglichkeit einer bürgerlichen Regierung, die von der Gnade des Steuerverweigerers Anders Lange abhängen würde, hat für sie mehr Abschreckendes als eine Regierung Bratteli, sogar, wenn diese auf gewisse Wünsche der Linkssozialisten Rücksicht nimmt. Sicher ist, daß die norwegische Politik in den kommenden vier Jahren an das Geschick und das Verantwortungsbewußtsein der führenden Männer große Anforderungen stellen wird.

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