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Breschnewismus ohne Breschnew

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Noch niemals in sowjetischer Geschichte ist der Übergang von einer Führung auf die nächste so schnell und anscheind reibungslos verlaufen. Der Kampf um die Nachfolge ist noch zu Lebzeiten Breschnews ausgetragen worden, dadurch konnte ein Machtvakuum vermieden werden. Aber Jurij Andro-pow hat ein schwieriges Erbe zu übernehmen

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Noch niemals in sowjetischer Geschichte ist der Übergang von einer Führung auf die nächste so schnell und anscheind reibungslos verlaufen. Der Kampf um die Nachfolge ist noch zu Lebzeiten Breschnews ausgetragen worden, dadurch konnte ein Machtvakuum vermieden werden. Aber Jurij Andro-pow hat ein schwieriges Erbe zu übernehmen

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Jurij Andropows Erfolg ist nicht nur der Sieg des Intellekts über die Engstirnigkeit des Apparat-schiks Konstantin Tschernenko, sondern vor allem Ergebnis der größeren Hausmacht. Die sowjetische Historie wiederholt sich nicht: Als Lenin 1924 zu Grabe getragen wurde, behielt die „personifizierte Mittelmäßigkeit" Stalin die Oberhand über den intellektuell unvergleichlich höherstehenden Trotzki, der es aus dem Dünkel des Begabten verabsäumte, sich Gefolgschaft zu sammeln.

Leonid Breschnew ist tot, aber die Ära des mit Ehren und Ämtern Uberschütteten ist noch lange nicht zu Ende. Er selbst brauchte mindestens ein halbes Dutzend Jahre, um die Macht zu festigen und alle Kontrahenten abzuschütteln, deren Mitarbeit er sich bediente, um Nikita Chruschtschow zu stürzen.

Breschnew geht in die Sowjetgeschichte als der große Administrator ein, der die Periode der Kontinuität und Konsolidierung leitete, die Epoche des spontan entscheidenden Volkstribunen Chruschtschow, des unsteten Reformers der eigenen Reformen, durch den Zeitabschnitt des Ausgleichs ablöste. Breschnew hat die von Chruschtschow gedemütigten Heerführer wieder in die Zentrale berufen und die dritte Machtsäule des Sowjetstaates, Polizei und Geheimdienst, Terrorinstrument in der Epoche Stalins, auch nach außen hin rehabilitiert.

Die vom Diktator gesäuberte, von Chruschtschow verunsicherte Privilegiertenklasse konnte unter Breschnew endlich die Früchte ihres Einflußes genießen. Heute ist die sogenannte „Nomenklatura" zum festeingesessenen roten Adel etabliert, von der Furcht befreit, dereinst wieder die erworbenen Besitztümer und gesellschaftlichen Vorrechte abgeben zu müssen.

Breschnew wollte vieles und womöglich immer alles auf einmal: seinen Untertanen einen besseren Lebensstandard bescheren und die Engpässe in der Versorgung beseitigen; die Kriegsmaschinerie in Gang halten und nach Möglichkeit die militärische Stärke der anderen Großmacht zu erreichen, wenn nicht zu überflügeln; den Einfluß nach außen vergrößern, die Sowjetmacht ausdehnen, expandieren und gleichzeitig die Früchte der Entspannung einheimsen. Doch die eigene Wirtschaft machte nicht mit, und ebensowenig die andere Welt.

Am Ende der Ära ist die Kluft zwischen Vorstellung und Erreichtem größer denn je. Um das hochgesteckte Ziel zu erreichen, braucht die Wirtschaft Reformen und Handlungsfreiheit, die Breschnew nicht geben konnte und vielleicht auch nicht wollte. Dermaßen überläßt Breschnew dem Nachfolger jene Probleme, die er selbst von Chruschtschow geerbt hat.

Die komplexe und komplizierte Ökonomie muß vom Anspruch der Partei auf totale Kontrolle befreit werden, soll sie gleichzeitig Butter und Kanonen liefern. Reformen dieser Reichweite lösen aber für die Machthaber gefährliche Prozesse aus.

Friedensnobelpreisträger Sa-charow hat schon die Untrenn-barkeit von Elektronik und Ideen postuliert, die Notwendigkeit einer gewissen politisch-geistigen Öffnung, damit die in Unfreiheit und Bürokratismus erstarrte Sowjetgesellschaft auch wirtschaftlich-technisch den höchsten Stand erreicht. Allein der einsame Rufer nach größerer Gedankenfreiheit ist ins innere Exil verbannt, die Mitstreiter sind ins Ausland abgeschoben oder in Lagern interniert.

Breschnew gab den Generälen, was sie brauchten und noch mehr. Die Raketenlücke zum Westen ist geschlossen. Die rote Flotte beherrscht die Weltmeere. Sowjetische Panzer und Raketen stehen in zwei bis dreifacher Überlegenheit dem NATO-Rivalen gegenüber.

Der Leidtragende ist wieder einmal der Sowjetbürger. Heute schlechter versorgt als Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre. Das Risiko des murrenden, unzufriedenen, zu Alkoholismus und Kriminalität neigenden Bürgers ist in den Augen der Sowjetführung geringer, als die Verteidigung zu vernachlässigen. Iwan hat aufgehört, an die Segnungen der Heilslehre zu glauben, aber er revoltiert nicht offen. Der .von Andropow meisterhaft ausgebaute Apparat des KGB hat den Sowjetbürger fest im Griff.

Nach außen ist das Dogma der Weltherrschaft noch lange nicht ad acta gelegt. Breschnew hat der Doktrin von der beschränkten Souveränität von Satelliten seinen Namen gegeben und in der Niederwalzung des Prager Frühlings das Exempel statuiert.

In den Nachrufen diesseits und jenseits der Mauer wird er als der Advokat der Entspannung gepriesen. Spätestens durch den So-wjeteintf.arsch in Afghanistan und durch die Einsetzung des militärischen Ausnahmezustandes in Polen ist die Entspannung eines seligen Todes gestorben. Schon vorher hat Moskau den Begriff durch scholastische Haarspalterei ausgehöhlt: Annäherung an den- Westen, jedoch Fortsetzung des Befreiungskampfes angeblich vom Kapitalismus unterdrückter Nationen in der Dritten Welt. Diese Interpretation führte zu abenteuerlichen Vorstößen auf dem Schwarzen Kontinent, der Breschnew Bodengewinne eingebracht hat, aber auch nicht ohne Rückschläge abging.

Letztlich durch die Desintegration des polnischen Nachbarn ist auch die Beziehung zu den anderen kommunistischen Parteien in eine schwere Krise geraten. Trotz verbaler Konzession der eigenen Wege jeder Bruderpartei, der stillschweigenden Duldung des sogenannten Eurokommunismus und der tiefen ideologischen und politischen Kluft mit Peking geht Breschnews Moskau nicht vom Dogma ab, das der KPdSU die Führungsrolle im Weltkommunismus einräumt.

Im Innern wie im Äußeren ist an eine Aufgabe des starren Parteidiktates nicht zu denken. Nun sieht sich der Nachfolger vor die Tatsache gestellt, daß das Weltzentrum des 1 Kommunismus selbst bei den Anhängern der Ideologie seinen Anreiz verloren hat.

AmEndederdrittenGeschichts-epoche der Sowjetunion steht die Krise: Im Innern eine starre, schwerfällige Macht, die sich auf die Ordnungskräfte stützt und den Griff der Repression nicht zu lockern bereit ist; nach außen verhärtete Fronten gegenüber dem Westen ohne Aussicht, die Abrüstungsgespräche und die Verhandlungen über den Abbau der nuklearen Arsenale aus der Stagnation herauszuführen.

Die seinerzeit vielgepriesene europäische Sicherheitskonferenz ist zu einem Propagandaforum der Initiatoren geworden. Nichts weiter. Die kommunistische Weltbewegung zeigt zentrifugale Bewegungen.

Kremlführer reagieren mit Verhärtung, wenn ihre Aktionen auf Kritik, ja Abkehr treffen. Es ist daher kein Zufall, daß die letzten von Breschnew in der Öffentlichkeit ausgesprochenen Worte einen Tön anschlagen, der vom Nachfolger fortgesetzt wird.

Andropow beginnt, wo Breschnew aufgehört hat — auch in der Ausdrucksweise: „Es ist sinnlos, von den Imperialisten Frieden zu erwarten. Friede kann nur aufrecht erhalten bleiben, wenn wir auf der unbesiegbaren Macht der sowjetischen Verteidigungskräfte bestehen."

Andropow also der Falke, der Mann, der Entspannung aufgibt, auf politische und wirtschaftliche Autarkie seines Landes besteht, der die Weltrevolution anstrebt, bis der Weltfriede „die Stille von Friedhöfen" erreicht hat?

Die Inthronisationsrede ist nicht unbedingt das Maß Andropows. Als Parteichef obliegt es ihm, den Ausgleich der widerstreitenden Gruppen im Führungsgremium zu erreichen. Und da ist einmal die alte Garde, der jede Reform ein Dorn im Auge ist, und die auch nur in der leisesten Andeutung von Liberalisierung eine Gefahr für das System und ihre eigene Herrschaft sehen.

Andropow hat einen Pakt mit Dimitri Ustinow, dem obersten Kriegsherrn, geschlossen, um Tschernenko auszustechen. Dieses Zweckbündnis fordert seinen Tribut: Generäle und Admiräle fordern die Mittel für ihre Einheiten, dermaßen den Rüstungswettlauf intensivierend.

Dann sind da noch die Pragmatiker, die Technokraten und Wirtschafter, die den Bruch mit der Vergangenheit erstreben, die eingesehen haben, daß die strikte Zentralisierung die Dynamik des Systems vernichtet, daß schonende Öffnung vonnöten ist, auch nach Westen, um in Kooperation zu erreichen, was die Sowjetökonomie allein nicht hergibt. Der relativ junge Gorbatschow, Parteisekretär und Mitglied des Politbüros, dürfte zu diesen Gemäßigten gehören.

Andropow hat zwischen Falken und Tauben, Reformfreudigen und Hardlinern zu vermitteln. Das Erbe, dem Gesamtsystem entsprossen und der zögernden Bereitschaft Breschnews zu Neuerungen zu danken, lastet auf Andropow, solange er noch Gleicher unter Gleichen ist. Am Beginn steht der Breschnewismus ohne Breschnew. Ein Bruch mit der Linie wäre gefährlich. Für den Westen mag es erleichternd wirken, daß mit ihm der starke Mann ans Ruder gekommen ist — stark genug, um einer neuen Epoche den Stempel aufzudrücken.

Der neue Kremlherr hat beste Voraussetzungen: Erfahrung im diplomatischen Dienst, in der Parteiarbeit und im Verkehr mit den kommunistischen Parteien. Der vormalige Chef des Geheimdienstes hat den Sicherheitsapparat hinter sich. Er gilt als gebildet und sprachgewandt- Eigenschaften, die im Kreml selten anzutreffen sind.

Westliche Gutgläubigkeit und sowjetische Desinformation schreiben ihm mäßigenden Einfluß zu. Nicht ganz zu Recht, wenn seine Lebensgeschichte bekannt ist. In Ungarn nennen sie den Botschafter zur Zeit des kurzen Befreiungskampfes von 1956 den „Schlächter von Budapest".

Den KGB-Apparat hat Andropow effektiver gestaltet. Heute sind die geheimen Wächter der Partei imstande, auf physische Vernichtung zu verzichten: Sie zerbrechen geistig, was um Freiheit ringt. Andropow, der Experte moderner Kunst, der gegen besseres Wissen die nonkonformistischen Künstler des Landes an die Kandare des allein approbierten sozialistischen Realismus nimmt.

Andropow, der Nachfolger Sus-lows als Gralshüter der reinen Heilslehre: Intellekt ist nicht gleichzusetzen mit Mäßigung, wohl aber mündet er nicht selten in blanken Zynismus.

Daß dies bei Andropow nicht eintrifft, darauf hoffen die Streiter um Menschenrechte, die unvoreingenommenen Sowjetbürger, letztlich die andere Welt. Andropow bleibt nicht viel Zeit, um den Wahrheitsbeweis zu erbringen.

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