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Brief an die Genossin Muskat

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An Frau Muskat c/o Kis Viddm-park BudapestXIV Värosliget Straße des 1. Mai

Liebe Genossin Muskat,

ich habe lange gezögert, Ihnen diesen Brief zu schreiben. So vieles sprach dagegen. Es fing schon damit an, daß Sie ho^fetwahrschetalich — nein: mit Sicherheit — gar nicht Muskat heißen. Wie aber heißen Sie wirklich? Ist es nicht sträfliche Vermessenheit von mir, darauf zu bauen, daß der Postbote, der im Budapester Stadtwäldchen die Briefe austrägt, über soviel literarische Bildung verfügt, um zu wissen, daß seit Lilioms Tagen der Name Muskat untrennbar mit dem Metier der Ringelspielbesitzerin verknüpft ist?

Und daran: Was heißt Ringelspiel-besitzerin? Sind Sie das denn? Früher, als der Vidam-park (deutsch etwa: Fröhlicher Park) noch der Angolpark (Englischer Garten) war und der Molnär Ferenc seine „Vorstadtlegende“ vom rauhbeinigen, aber herzensguten Hutschenschleu-derer LUiom und der kleinen Dienstmagd Julika schrieb, ja, da konnte man Sie zu Recht so nennen: Da war, was Sie den Leuten anpriesen, ganz und gar Ihr eigen, und drum priesen Sie es den Leuten ja auch gar so vehement, daß Ihnen der stimmgewaltige Liliom dabei zur Hand gehen mußte: „Noch ein Schaukelpferd ist frei!“ „Wer von den Damen...?“ „Erwachsene zehn Heller, Kinder fünf, Soldaten, vom Feldwebel abwärts, die Hälfte!“ — erinnern Sie sich noch?

Aber heute, wo Sie im Staatsdienst stehen? Als eine von der Volksrepublik Ungarn eingesetzte, eingestufte und besoldete, nur ihr verantwortliche, aber von ihr auch ganz und gar abhängige Ringelspielfunfctsionärin? Sie müssen mir verzeihen: Ich habe Sie beobachtet. Ich habe Sie um zehn Uhr früh kommen und um acht Uhr abend gehen sehen. Ich wurde Zeuge, wie Sie sich in der Portierloge beim Haupteingang zum Dienstantritt an-und ebendort zum Feierabend abgemeldet, wie Sie beide Male Ihre Stechkarte gezückt und die Stechuhr betätigt haben, wie Sie in der für Sie bestimmten winzigen Kabine des „Körhinta“ (Ringelspiel, Karussell) Ihren Poeten eingenommen, Ihr Strickzeug und Ihren Groschenroman vor sich ausgebreitet, aus Ihrer Thermosflasche getrunken, sich hin und wieder eine Zigarette angezündet und — darf ich es sagen? — zu Tode gelangweilt haben. Aber ist das ein Wunder bei dem geringen Interesse, das dem von Ihnen gehüteten Etablissement zuteü wird?

Versuchen Sie nicht, die Dinge zu beschönigen. Ich habe den Betrieb lange genug beobachtet, wir brauchen einander nichts vorzumachen: Ihr Ringelspiel zählt zu den schwächsten Attraktionen des Vidäm-parks. So wenig ich mich mit der Idee eines- verstaatlichten Rummelplatzes anfreunden mag: Für Ihresgleichen ist der neue Status ein wahres Glück. Nur ein Staatsbetrieb darf es sich leisten, etwas so Defizitäres wir Ihr Karussell mitzuschleppen. Ich kann nur hoffen, daß Sie keinerlei Plansoll unterworfen sind — Sie könnten es nie und nimmer erfüllen.

Ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld. Auch wenn Sie ein wenig mehr aus sich herausgingen oder gar, wie anno dazumal, einen Rekommandierer vom Schlage Lilioms zur Seite hätten, sei es leibhaftig oder auch nur vom Tonband: Viel mehr wäre aus Ihrem Geschäft auch dann nicht herauszuholen. Die heutige Generation zieht es zu anderen Vergnügungen: zu Gocart und Flipper. Nicht einmal die Vorschuljahrgänge sprechen mehr auf Ringelspielrösser an, auf venezianische Gondeln, auf Galawagen mit Spiegelwänden, Blumengirlanden und fanfarenblasende Engel. Ich habe es selbst gesehen, wie schon die kleinsten Knirpse Ihren weißgelben Pavillon links vom Hauptportal, dieses Prunkstück sezessionistischen Barocks, nicht eines Blickes würdigten, wie sie kein Auge hatten für die galanten Szenen der Deckenfresken oder die schön gearbeitete Holzkuppel, in der sich mittlerweile — mangels anderer Gäste? — die Schwalben eingenistet haben, und wie sie überhaupt dieses Kinderparadies der Großväterzeit links liegen ließen, obwohl doch der Eintritt bei Ihnen nur einen Forint kostet und zur Inbetriebnahme nur ein Minimum von zwei Personen verlangt wird. Wahrscheinlich schmerzt es Sie weniger, als es mich geschmerzt hat, zu sehen, wie dafür alles zur Konkurrenz strömt, denn es gibt für Sie als Staatsbetrieb natürlich gar keine Konkurrenz, und sicherlich sind Sie auch längst abgestumpft gegen all die Zeichen der Abkehr, ja vielleicht sogar heilfroh, auf diese Weise Ihre Ruhe zu haben, und möchten um keinen Preis der Welt mit der Rennbahn tauschen oder dem Toboggan, wo die Burschen tagaus, tagein Schlange stehn, ganz zu schweigen von dem überlaufenen „Big Bronco“, diesem Schaukelpferd des elektronischen Zeitalters, das die Kleinsten der Kleinen so schön technisch durchschüttelt — vollautomatisch.

Sie müssen nach allem, was ich bis jetzt gesagt habe, glauben, es gehe mir darum, die Entwicklung, die der Budapester Prater in der neuesten Zeit durchgemacht hat, zu beklagen, vielleicht gar zu schmähen. Aber gerade in Ihrem speziellen Fall trifft das Gegenteil zu: In einer freien Marktwirtschaft hätte ein Ringelspiel wie das von Ihnen verwaltete keine Existenzberechtigung mehr, es wäre längst demontiert und in Einzelteile zerlegt, und die Einzelteile wären ihrerseits, zu vermutlich ansehnlichen Preisen, vom Antiquitätenhändler aufgekauft. Ihr Staat hingegen, liebe Genossin Muskat, kann es sich leisten, Ihrem wunderschönen „Körhinta“, diesem vielleicht letzten' Rummelplatzrudiment aus kaiserlich-königlichen Tagen, die Demolierer vom Leibe zu halten und ei, seinen lächerlich niedrigen Umsätzen zum Trotz, einer veränderten Nachwelt zu bewahren. Das verdient Lob und Anerkennung, um so mehr, als Historismus und Traditionalismus im allgemeinen nicht zu den Passionen Ihres Staatsapparats zählen.

Liebe Genossin Muskat, Sie werden mit Recht fragen, wer ich denn überhaupt sei und wie ich dazu käme, Ihnen all das zu schreiben. Sagen Sie nicht, Sie kennen mich nicht. Vielleicht erinnern Sie sich an jenen undurchsichtigen Besucher vom letzten Herbst, der, was Ihnen gleich verdächtig vorkam, einen halben Nachmittag lang seltsam unruhig Ihr Etablissement umstrich. Heute kann ich Ihnen sagen, warum ich es tat. Ich tat es in der Hoffnung, einmal, ein einzigesmal nur, Ihr Ringelspiel in Betrieb zu erleben. Ich wollte all die alte Pracht noch einmal eine Runde drehen sehen, dazu den Klang des alten Werkels in mich aufnehmen, aber Sie selbst wissen am besten, welche Mühe es mich kostete, mir meinen bescheidenen Wunsch zu erfüllen. Wie viele Kinder, denen ich nur zu gern eine Fahrt spendiert hätte, lehnte die Zumutung ab, sich zu derart antiquiertem Amüsement herzugeben! Es war nicht bloß der magyarische Hochmut; es war einfach auch die Kluft zwischen Gaslaterne und Neonröhre, zwischen Postkutsche und Turboprop, zwischen Liliom und Pink Floyd. Und dann, als ich glücklich ein paar Opfer gefunden hatte, die sich bereit zeigten, meinem Angebot näherzutreten und auf meine Kosten eine Runde mit Ihrem Ringelspiel über sich ergehen zu lassen, da waren plötzlich Sie es, die Schwierigkeiten machte. Es soll Sie nicht kränken, wenn ich Sie daran erinnere, wie wenig kooperativ Sie sich zeigten, als ich meinem Ziel endlich nahe schien: Sie behaupteten, kein Wechselgeld zu haben, und ließen erbarmungslos das Schiebefenster Ihres Kassenver-schlags vor uns nieder. Doch da unterschätzten Sie meine Hartnäckigkeit: Ich ging hinüber in die Halle mit den Spielautomaten und kehrte von dort mit Kleingeld wieder: Nun konnten Sie Ihre Klienten nicht mehr abweisen. Es war Ihnen anzumerken, wie sehr es Sie verdroß, und Sie straften uns ja auch dafür: indem Sie die Musik abgeschaltet ließen — wie mir vorkam: demonstrativ. Und so sah ich denn das gute alte Ringelspiel lautlos kreisen, nur zum äch-zend-dröhnenden Eigengeräusch des schon klapprigen alten Mechanismus.

Ich glaube, alle Beteiligten waren froh, als der Spuk vorüber war: die Kinder, die das Risiko eingegangen waren, von den Kameraden für ihr unzeitgemäßes Verhalten verspottet zu werden, Sie, der es lästig war, aus Ihrer staatlich sanktionierten Ruhe aufgescheucht zu werden, und ich, der sich hatte belehren lassen müssen, daß es ein Unding ist, 64 Jahre nachdem Molnär sein Prachtstück geschrieben, den Geist Lilioms zu frischem Leben erwecken zu wollen.

Ob Sie jemals von „Liliom“ gehört, ja vielleicht gar selber eine Aufführung gesehen haben? Bei der Premiere, im Dezember des Jahres 1909, fiel das Stück bei Ihnen in Budapest durch; heute zählt es im gleichen „Vigszinhäz“, wie Sie bestimmt von den Plakaten wissen, zu den Klassikern des Hauses. Aber seinen Siegeszug rund um die Welt — begleitet von Namen wie Hans Albers und Max Pallenberg, Fritz Kortner, Joseph Schildkraut und Charles Boyer — trat es erst von Wien aus an: 1913. Alfred Polgar hatte die deutsche Ubersetzung geschaffen, Josef Jarno und seine Frau Hansi Niese spielten die Hauptrollen. Und als wenige Monate später das k. k. privilegierte Theater in der Josefstadt mit seiner Erfolgsinszenierung bei Ihnen im Budapester Stadtwäldchen gastierte, schlug der „Prater-Jederrnann“ auf einmal auch am Ort seiner Entstehung ein. Sein Autor, bis dahin als seichter Boulevardier abgestempelt, hatte sich mit dem „Liliom“ — und nur mit ihm! — über Nacht einen Dauersitz im Dicbterolymp erschrie-ben.

Wien zum Dank blieb die „Liliom“-Legende von Stund an expatriiert, und dabei ist es bis heute geblieben: Die Geschichte vom Budapester Hallodri, dem es nicht gelingen will, eine ehrliche Haut zu werden, wird entgegen den Regieanweisungen des Dichters — Sie brauchen nur einmal einen Bühnenbildner zu fragen! — automatisch im Wiener Wurstelpra-ter angesiedelt. Ihr Ringelspiel also, liebe Genossin Muskat, die Promenadenbank, auf der der Budenausrufer Endre Zävoczki und die Dienstmagd Julia Zel'ler ihre ersten Küsse tauschten, das Atelier der Schnell-photographin Hollunder, bei der das Hals über Kopf vermählte Paar Unterschlupf findet, und auch der Eisenbahndamm, wo Lilioms Raubüberfall auf den Kassier der Lederfabrik so kläglich schiefgeht, daß er sich schließlich selber das Messer in die Brust stößt dies alles liegt nunmehr im Schatten des Riesenrades, und ich weiß von keinem, den diese Übersiedelung jemals ernstlich irritiert hätte. Wieso auch? Was ist das Budapesiter Stadtwäldchen anderes als der kleine Bruder des Wiener Praters, und beide Städte, ohnedies durch tausenderlei Verwandtschaften miteinander verbunden, liegen an einem und demselben Strom. Was, ich bitte Sie, ist solch ein Transfer schon gegen beispielsweise Shakespeare, der sich immerhin erkühnte, Böhmen ans Meer zu verlegen!

Wenn also, liebe Genossin Muskat, wieder einmal so einer kommt wie ich und mit dem gewissen Ästbetenblick um Ihr Etablissement herumstreicht: schauen Sie, daß Sie Wechselgeld in der Kasse haben, tun Sie ihm seinen Willen, zeigen Sie ihm, was das alte Ringelspiel noch immer kann — Liliom, inzwischen vom Fegefeuer in den Himmel überstellt, wird's Ihnen danken.

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