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Brief ohne Anschrift

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Herr Pastor, hoffentlich geht es Ihnen gut.

Als Sie damals, am Weihnachts.abend, vor unserer Tür standen, mit dem kleinen Jungen auf dem Arm, neben Ihnen Ihre Frau, sie war im achten Monat, war es sehr kalt. Die Winter bei uns in Mähren waren immer kalt.

Dazu kam, daß unsere kleine Stadt, umgeben von weinbewachsenen Hügeln, in einer Mulde lag, in der sich im Sommer die Hitze fing, eine trockene, flirrende Hitze, weit und breit gab es kaum Wasser, auch aus den Brunnen floß es spärlich, im Winter blies der Wind viel Schnee über das Land, verwehte die Straßen meterhoch und brachte krachenden Frost.

An jenem Abend also standen Sie vor der Tür.

Mein Vater hatte Sie und Ihre Frau eingeladen, mit uns zu Abend zu essen und das Fest zu feiern, Mutter begrüßte Sie herzlich und ließ Sie ein. In der Küche zerlegte das Dienstmädchen Marie eine Gans. Salate türmten sich, eine Nachspeise stand bereit.

Wir kannten damals noch keine Not in Mähren. Das Land war fruchtbar, Äcker und Bauernhöfe waren ertragreich genug, uns trotz der Abgaben gut zu versorgen. Gänse jedenfalls gab es genug. Wenn die Feldpostbriefe nicht gewesen wären, die Tiefflieger hin und wieder und die Listen mit den Namen der Gefallenen, hätte man jetzt, im vorletzten Kriegsjahr, beinahe meinen können, es gäbe keinen Krieg.

In unserem Wohnzimmer war es behaglich warm. Auch Kohle hatten wir noch. Es muß Ihnen gewesen sein, als kämen Sie auf eine kleine Insel des Friedens, ausgespart aus Kälte und Angst. Und Ihre Frau, wie mag sie sich gefühlt haben, sie, die nicht wußte, wo sie ihr Kind zur Welt bringen würde? Dann in ein solches Zimmer zu kommen, die Wärme zu fühlen, die Geborgenheit!

Wo ist Ihr Kind zur Welt gekommen, Herr Pastor?

Drei Wochen später mußten Sie fort. Die Pferde wieder vor den Piachenwagen, die Kinder auf einem bißchen Heu, vorne im Wagen saßen die Frauen, die Männer gingen nebenher.

Nachts zogen die Trecks an unserem Haus vorbei. Auch im Winter, wenn die Fenster geschlossen blieben, die weißen Vorhänge wie Wolken vorgezogen, drang der Lärm der vorbeirollenden Wagen, das Stampfen der Pferde, eintönig, nächtelang gleichbleibend, durch alles hindurch. Er ließ sich nicht aufhalten, dieser monotone Lärm, an den man sich nicht gewöhnte, er ließ die Fußböden erzittern und die Prismen des Lusters aneinanderschlagen.

Es hätte keinen Sinn gehabt, Sie zum Bleiben aufzufordern, Herr Pastor. Sie aus dem Lager zu holen, Ihren kleinen Buben in mein altes Kinderbett zu legen, Ihnen unser Gästezimmer einzurichten. Ein paar Monate später gingen auch wir.

Vielleicht konnten Sie sich und Ihre Familie noch in Sicherheit bringen. Vielleicht hat der Treck aus dem Umsiedlungslager noch ein sicheres Ziel erreicht? Warum also kann ich den Augenblick nicht vergessen, in dem Sie dem Kleinen das Pelzmützchen wieder über die Ohren zogen, ihn auf den Arm nahmen und uns die Hand zum Abschied gaben?

Ja, ein paar Monate später gingen auch wir, und wir hatten nicht einmal Pferd und Wagen, und unsere Kinder hatten auch nicht das bißchen Heu.

Es gleicht sich alles aus, Herr Pastor. Nur, daß wir Sie damals gehen ließen, mit dem Kind und mit Ihrer Frau, hinaus in die Nacht voller Schnee, das kann uns niemand mehr vergeben.

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