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Britischer Wohlfahrtsstaat steht auf dem Prüfstand

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43 Jahre nach dem berühmten Report von Lord William Bever-idge, der Geburtsstunde des modernen britischen Wohlfahrtsstaates, ist die gesamte Ordnung des Gesundheits-, des sozialen Dienstes und der Fürsorge einer Bestandsprüfung ausgesetzt. Die konservative Regierung argumentiert, das System sei zu kompliziert, um jedem Berechtigten einsichtig zu sein, zu teuer für den Staat und bisweilen unzureichend, um die Aufgabe einer Umverteilung der Mittel zu erfüllen.

Ein grundlegendes Papier über Veränderungen und Reorganisierung steht bevor, aber die Veröffentlichung ist vorläufig verschoben. Angeblich sind sich Schatzkanzler und Sozialminister noch nicht einig geworden, ist die Diskussion im Kabinett noch nicht abgeschlossen. Der wirkliche Grund für die Verzögerung könnte in dem Zündstoff liegen, der in der Veränderung des stolzen Sozialsystems liegt - keineswegs geeignet, in den bevorstehenden Lokalwahlen Stimmen zu gewinnen.

Die Labourpartei dagegen zeiht die Regierung des Mordes am liebgewonnenen Wohlfahrtsstaat, noch bevor ein Buchstabe des Planes an die Öffentlichkeit gedrungen ist.

Kann sich die britische Gesellschaft den Wohlfahrtsstaat leisten? Sozialrninister Norman Fowler ist sich darüber nicht mehr so sicher. Ein Drittel der öffentlichen Mittel - 44 Milliarden Pfund Sterling - gehen in den Gesundheitsdienst und die Fürsorge, doch dieser Budgetposten wächst überproportional. Rationalisierung ist notwendig, um sicher zu sein, daß die vorhandenen Mittel wirklich jenen zugute kommen, die sie am meisten brauchen: den Kranken und Mittellosen.

Eine Vereinfachung des äußerst komplizierten Schemas ist des weiteren imstande, die bislang notwendige Bürokratie abzubauen. Nichts macht den verworrenen Charakter der Wohlfahrt im Staat Margaret Thatchers deutlicher als die Tatsache, daß eine Pfundmüliarde liegen bleibt, von den Berechtigten aus Unwissen oder aus falschen Hemmungen nicht eingefordert wird.

Im Zuge eines Uberlebenskampfes hat der von Labour beherrschte Groß-Londoner Rat einen eigenen Telefondienst eingerichtet, um Ansuchende durchs Labyrinth des Systems zu führen. Im Rathaus werden die Konservativen unverhohlen verdächtigt, unzureichend und unfreundlich aufzuklären, um solchermaßen Geld zu sparen.

Sparsamkeit ist das oberste, vom Finanzminister ausgegebene Gebot. Schatzkanzler Nigel Law-son erhofft sich von einer Reform zwei bis drei Milliarden Ausgaben in das dritteuerste Ressort zu ersparen, doch dem Kabinettskollegen Fowler ist es offensichtlich gelungen, diese Erwartungen unter die Ein-Milliarden-Schwelle zu drücken.

Bedeutet finanzielle Kontrolle nun, daß der britische Wohlfahrtsstaat an Güte und Qualität einbüßt, daß die Ärmeren mit noch weniger auskommen müssen? Das befürchten nicht nur jene, die es in ihrer Existenz trifft, sondern augenscheinlich auch die Regierenden beziehungsweise einige Feinfühlende im Kabinett.

Informationen über den Stand der geheimen Diskussion in Frau Thatchers engstem Kreis sind reichlich und gezielt durchgesik-kert, sei es um der Beratung eine Wende zu geben, oder einfach aus dem Grund, die Öffentlichkeit auf eine wesentliche und einschneidende Veränderung vorzubereiten.

Die Zuschüsse für Wohnung und Unterkunft sollen spärlicher fließen. Haushalten der Mittellosen wurden bisher vom Staat die an die Behausung gebundenen Gemeindesteuern ganz oder teilweise abgenommen. Dem Schatzamt kostet dieser Zuschuß an die vier Milliarden Pfund. Es wird bezweifelt, ob diese Sozialhilfe wirklich den Bedürftigen, die gemeiniglich in bedrängten - geringer besteuerten — Verhältnissen leben, zukommt.

Die zusätzlichen Sozialleistungen für Heizung, Kleidung, Möbi-lierung etc. über die Basisunterstützung hinaus unterliegen wie gesagt einem äußerst komplizierten System, das notwendigerweise die Administration aufbläht. Fowler geht nun daran, die Zusatzhilfen in die grundlegende Sozialleistung einzubauen.

Schatten-Sozialminister Mea-cher (Labour) machte sich zum Sprecher der Mehrheit mit niedrigem Einkommen: Diese hingen zuallererst von jenen Geldern ab, die ihre prinzipiellen staatlichen Zuschüsse aufbessern. Senkung des Lebensstandards, der ohnedies schon an oder auf der Armutsschwelle liegt, sei die unausweichliche Folge.

Die schlimmsten Fälle von Mittellosigkeit erscheinen in einer Gruppe von Familien mit niedrigem Einkommen, das mitunter tiefer liegt als die Arbeitslosenunterstützung. Ein neues „Family-Credit”-Programm ist als Ausgleich in Vorbereitung, das jedem Kind einer notleidenden Familie zugute kommt. Die Maßnahme ist als ein Arbeitsanreiz gedacht. Bis jetzt wurden die öffentlichen Zuschüsse eingestellt, sobald Arbeit gefunden wurde.

Der arbeitslose Teenager Ali-stair Williams lebt in Londons Osten zusammen mit acht Leidensgenossen, die stempeln gehen. Er erhält in der Woche 28,5 Pfund, kaum ausreichend für Zimmer und Nahrungsmittel; Im kalten Winter reichte es nicht immer zur Heizung. Das Arbeitsamt hat für ihn, einen Hilfsarbeiter ohne besondere Qualifikation, keinen Arbeitsplatz parat, der über die Arbeitslosenunterstützung bezahlt würde.

Die fünf Pfund Kinderbeihilfe pro Woche, jeder Mutter ohne Rücksicht auf ihre finanzielle Position zufließend, bleibt intakt. Aber die Pensionisten sehen düsteren Zeiten entgegen. Eine Modifizierung der staatlichen, nach dem Verdienst berechneten Pensionen steht in Aussicht. Durch dieses Programm werden die Altersrenten in den nächsten zehn Jahren praktisch verdoppelt. Der Staat ermutigt zur Eigeninitiative: Wer höhere Pensionen will, soll sich privat versichern und er wird dafür steuermäßig begünstigt.

Labour aber warnt: Änderungen des Rentenschemas wirft zwei Millionen in bittere Armut. Abschaffung der Zusatzunterstützung beraubt acht Millionen ihrer Existenzgrundlage. Wie Meacher wiederholt formuliert hat: Massaker am Wohlfahrtsstaat.

Die Regierung freilich ist sich sehr wohl der Folgen bewußt: Abstriche am Wohlfahrtssystem müssen mit Stimmenverlusten an den Urnen bezahlt werden. Durch größte Effizienz eines Wohlfahrtsstaates modernisierter Prägung glaubt sie das verhindern zu können.

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