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Brüderliche UrgestaltenderBibel

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Die Menschheit hat sich Götter, mythische Gestalten und Legendenfiguren als Leitbilder und Symbole geschaffen. Die Leitfiguren der Bibel unterscheiden sich von solchen, daß man sich sie als lebende Wesen vorstellen kann.

Das Heilige Buch schildert sie uns daher auch als Menschen - mit Fehlern, Schwächen, Fragezeichen. Dafür können wir sie auch stärker als unsere Zeitgenossen empfinden. In provokanter Weise stellt sie Elie Wiesel, der mystisch-jüdischen Tradition des Chassi-dismus verhafteter Bibelwissenschaften, in unsere Zeit: Denn jüdische Geschichte vollzieht sich in der Gegenwart.

Der erste Mensch Adam etwa: „Sein Suchen nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Sinn steckt in jedem Menschen und macht Adam zu einem ewigen Zeitgenossen. Jeder von uns strebt nach einem Stück verlorenem Paradies, nach einem Stück Unschuld .. .”

Nach dem Sündenfall ruft Gott den Sünder, der sich zu verbergen sucht.' Seine Frage wird von Gott an jeden Menschen zu jeder Zeit gestellt: „Wo bist du? Wo ist dein Platz in der Welt? Wie ist es um dein Leben bestellt?”

Adams Beispiel für uns Heutige? Daß der Mensch nach der Sünde nicht resignieren darf, daß er den Mut zum Neubeginn haben muß („Die Macht, einen Anfang zu setzen, steht nur Gott zu, aber der Neubeginn gehört zum Menschen”), ja überhaupt die Erkenntnis: „Die Welt, die bisher nur geschaffen war, zu gestalten und zu vollenden ist Menschenpflicht.”

Dann das Drama von Kain und Abel - natürlich „Symbole und Beispiele für die stärksten Triebe, die die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft in Haß, Blutvergießen und Kriege stürzt und schließlich zur Selbstzerstörung führt.” Aber doch nicht nur das.

„Kain, der brutale Verbrecher und zynische Lügner, ist der lebendige Beweis dafür, daß Vergebung möglich ist und rechtfertigt so die Hoffnung auf Erneuerung, ja auf das Geschick des Menschen überhaupt.”

Abel ist nicht unschuldig an seinem Tod: Er hat kein Ohr gehabt, als der Bruder die Aussprache mit ihm suchte: „Wenn jemand leidet, wenn jemand einsam ist, hat niemand das Recht, sich fortzustehlen oder die Augen zu verschließen.”

Oder war Kain etwa nur ein idealistisch gesinnter Sozialrevoluzzer, der durch den Brudermord seine von ihm von Gott für ungerecht bestraft gehaltenen Eltern Adam und Eva rächen wollte?

Dann lautet die Lehre: „Ein Mord wird niemals gerechtfertigt, auch dann nicht, wenn er begangen wurde, um eine bessere Zukunft zu schaffen.” Denn: „Wer tötet, tötet seinen Bruder. Und wenn man getötet hat, ist man niemandes Bruder mehr.”

Und wenn Gott selbst zu töten befiehlt wie im Falle der „bestürzenden Geschichte” um Isaak, „die das jüdische Schicksal ganz enthält?” Obwohl „Isaak” erstaunlicherweise so viel wie „Lachen” meint und lachen macht?

„Als erster Uberlebender lehrt er die Uberlebenden der künftigen jüdischen Geschichte, daß es möglich ist, ein ganzes Leben lang zu leiden und zu verzweifeln und dennoch nicht auf die Kunst des Lachens zu verzichten.”

Isaaks Sohn Jakob ist in der Sicht des Autors der uninteressanteste unter den drei Patriarchen: „der erste Träumer der Biblischen Geschichte.”

Im Traum freilich wächst er über sich hinaus. Bis ihn in der Nacht vor dem erwarteten Kampf mit Bruder Esau ein Unbekannter in Penuel herausfordert, mit dem er bis zum Morgengrauen ringt und den er nicht entkommen läßt, bis er ihn gesegnet und ihm den Namen Israel verliehen hat: ein Engel, wie es herkömmlicher Deutung entspricht? Gott selbst?

Elie Wiesel: Jakobs anderes Ich. „In Penuel trafen einander die beiden Jakob.” Und: „Die Geschichte Israels lehrt uns, daß der wahre Sieg des Menschen der Sieg über sich selber ist.”

Ein Held also, der als solcher nicht geboren, sondern der zu einem solchen durch eigenes Zutun geworden ist. Wie Josef, einer der Jakob-Söhne, den seine Brüder töten wollten, dann aber an eine Kaufleutekarawane verkauften, die ihn an den Hofbeamten Potiphar des ägyptischen Pharao weiterverschacherten.

Man erinnert sich: Er widerstand der Verführung durch Potiphars Weib, büßte mit Kerker dafür, wurde später aber als Traumdeuter berühmt, rettete Ägypten und auch sein eigenes Volk, aber nicht, ehe er nicht seine Brüder, die ihn nicht erkannten, genarrt und gedemütigt hatte.

Warum wird er „Zaddik”, ein „Gerechter”, genannt? Seine Entwicklung lehrt: „Man kommt nicht als Gerechter zur Welt, man wird es. Wer ein Gerechter geworden ist, muß an sich viel arbeiten, damit er es bleibt.”

Wie Moses, MoscheRabbenu, dessen Namen das Gesetz trägt, der National-und Sozialrevoluzzer, der „einsamste und mächtigste Held der Biblischen Geschichte.”

Wie hat doch dieses Volk seinen Retter und Erzieher immer wieder durch Kleingläubigkeit und Sklavenmentalität enttäuscht! Und doch:

„Es genügte, daß ein anderer Israel schlecht machte, und Moses verteidigte es sofort leidenschaftlich und wild. Es gibt Zeiten, da sind nur Juden befähigt, Juden zu kritisieren. Moses verteidigte sie nicht nur gegenüber ihrem Feind, sondern ab und zu auch gegenüber Gott.”

Das war denn auch, was ihm Größe verlieh: daß er Gott seinem Volk und sein Volk Gott nahebrachte: „Der Mi-drasch versichert, nur durch sein Eintreten für sein Volk wurde Moses der Mann Gottes.”

Der Midrasch ist die in den Jahrhunderten nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem „erlebte und geträumte Wirklichkeit Israels.” Er ist für die Bibel, „was die Phantasie für die Erkenntnis ist.”

Midrasch-Geschichten (die oft sehr widersprüchlich sind) zieht der Autor 'immer wieder zur Deutung der von ihm beschriebenen Figuren heran - auch im Fall des Hiob, der am wenigsten befriedigenden Charakterdeutung.

Weil Hiob, ohne Schuldgefühl, lange mit Gott rechtet, aber sofort zurückzieht und zum Selbstankläger wird, als Gott endlich zu reden anhebt, vermutet Elie Wiesel dahinter einen Trick wie bei Revolutionsidealisten, die durch absurde Selbstbezichtigungen in Tribunalen das Spiel ihrer Häscher mitspielen und diese dadurch entlarven:

„Deshalb unterwarf sich Hiob, der

Gerechte, der Weise, so schnell und so total, um den Gegner zu täuschen ... Er bereut Sünden, die er nicht begangen, und rechtfertigte Leiden, die er nicht verdient hat, und gibt uns dadurch zu verstehen, daß er nicht an seine eigenen Geständnisse glaubt, daß sie nur eine List sind . . .”

Na ja. Man muß dem durchgehend faszinierenden Autor ja nicht auf allen seinen Pfaden folgen. Er hält ja in strenger jüdischer Tradition auch Adam für den perfektesten Menschen und verwirft jede Idee einer Menschen-und Menschheitsvervollkommnung durch Evolution.

Anderes verwirft er aus jüdischem Glauben heraus, wo dieser christlichen widerspricht. So etwa ist „die Idee der Erbsünde der jüdischen Tradition fremd. Wir erben nicht die Sünden unserer Väter, auch wenn wir die Strafe dafür erleiden müssen. Die Schuld wird nicht übertragen.”

Dunkle Rede? Auch die Erbsündenlehre funkelt an Klarheit kaum.

Oder: Isaaks Vorwegnahme des Opfertodes Christi am Kreuz akzeptiert der Autor naturgemäß nicht: „In der jüdischen Tradition ist der Tod kein Mittel, das der Mensch gebrauchen sollte, um Gott zu verherrlichen. Für den Juden kommt jede Wahrheit aus dem Leben und nicht aus dem Tod.” Die in letzter Minute von einem Engel verhinderte Opferszene markiert für ihn „das Ende der Ära des rituellen Tötens.”

Freilich war Christi Opfer am Kreuz kein rituelles Töten zur „Verherrlichung Gottes”. Hier schlagen christliche und jüdische Gedanken die auseinanderlaufenden Wege ein.

Aber kann das ein Grund für uns sein, die tausende Jahre langen gemeinsamen Wege zu vergessen? Elie Wiesels faszinierende Deutung „brüderlicher Urgestalten” macht uns das Nein auf diese Frage leicht: Denn Biblische Geschichte vollzieht sich heute und hier auch in uns allen.

ADAM (Oder: Das Geheimnis des Anfangs: Brüderliche Urgestalten). Von Elie Wiesel, Herder-Verlag, 1980. 232 S„ öS 230,-.

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