6938281-1983_17_07.jpg
Digital In Arbeit

Budapest setzt weiter auf Reformen

19451960198020002020

Die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen haben auch Ungarn nicht verschont. Dennoch ist die Budapester Führung offenbar fest entschlossen, die auf die Wirtschaft beschränkte Reformpolitik fortzusetzen - wie auch ZK-Beschlüssen der letzten Woche bestätigten.

19451960198020002020

Die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen haben auch Ungarn nicht verschont. Dennoch ist die Budapester Führung offenbar fest entschlossen, die auf die Wirtschaft beschränkte Reformpolitik fortzusetzen - wie auch ZK-Beschlüssen der letzten Woche bestätigten.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Landwirtschaftsgenos senschaft in Boly, die unter anderem auch Hopfen zieht, ärgerte sich Jahr für Jahr — es gab zu wenig Scheren für die Ernte. Nun hat sie dieses Problem, dank den gesetzlich ermöglichten Formen kleinbetrieblicher Produktion, endgültig und sogar gewinnbringend gelöst: Sie beauftragte Genossenschaftsbauern eine sogenannte „Ökonomische Arbeitsgemeinschaft“ zu bilden und 10.000 Schnittgeräte pro Jahr herzustellen.

Diese Arbeitsgemeinschaft mit ihren 30 Mitgliedern, also praktisch eine kleine Genossenschaft mit Steuerbegünstigung, erzielte einen Erfolg, der bei zentraler Planung und einem Großbetrieb offensichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre:

Die geforderten Stückzahlen wurden nicht nur erreicht, son-

dem um oft das Vier- bis Fünffache übertroffen. Die Arbeitsproduktivität erhöhte sich, die Kosten konnten um 20 Prozent gesenkt werden.

Dies ist eines von Hunderten Beispielen, wie erfolgreich die neuen Formen kleinbetrieblicher Produktion in Ungarn arbeiten. Kleingenossenschaften, Privatbetriebe und die ökonomischen Arbeitsgemeinschaften (innerhalb bestehender Genossenschaften oder staatlicher Betriebe) stoßen nach und nach in all jene Bedarfslücken, die Groß- oder Mittelbetriebe offengelassen haben.

Das reicht von einem Privatcamping in der Nähe des Benediktinerklosters Pannonhalma, von zwei jungen Frauen aus dem Boden gestampft, über das Budape- ster Theater „Hökom“, das ohne staatliche Subvention auskommt, bis hin zu den 1200 Privattaxis in Budapest, die in Service, Verläßlichkeit und Preis durchaus nun schon westlich-kapitalistischen Maßstäben entsprechen.

Daß die Privat-Initiative sogar gelegentlich exportträchtig und devisenbringend wird, mögen zwei Beispiele illustrieren:

Eine Kleingenossenschaft exportiert ihre Hufnägel für das Beschlagen von Pferden inzwischen schon nach Irland, private Falkner sind mit Scheichs am Persischen Golf ins Geschäft gekommen und liefern ihre Zuchtvögel zur Balzjagd in den Nahen Osten.

Weitere, gerade sensationell anmutende Experimente der ungarischen Wirtschaftsreform: Zum ersten Mal gibt es in einem kommunistischen Land auch einen, dem westlichen ein wenig vergleichbaren Kapitalmarkt. Seit Jahresanfang kann man Schuldverschreibungen (mit einer Laufzeit von zehn Jahren und einer Verzinsung von 11,5 Prozent) erwerben.

Ohne Beispiel in den übrigen kommunistischen Ländern ist auch die von Ungarn mit Jahresbeginn beschlossene Errichtung von Zollfrei-Zonen auf dem eigenen Territorium. Gemischten ungarisch-ausländischen Industriegesellschaften wird die zollfreie Einfuhr von Rohstoffen und Halbfertigwaren erlaubt, wenn das fertige Produkt wieder exportiert wird.

Kernstück der Neuerungen in Ungarn bleibt jedoch die schrittweise Zulassung der Privaten oder Kleingenossenschaften, die weitere Dezentralisierung.

Wie wichtig das ist, mögen einige Zahlen belegen, die erst kürzlich vom Statistischen Zentralamt veröffentlicht wurden: Die 1,5 Millionen kleinen privaten

Landwirtschaften, entweder als Familienbetrieb geführt oder als Zweitwirtschaften von Industrie- Arbeitern oder Pensionisten, produzieren 62,6 Prozent des gesamten Gemüses, 54,9 Prozent des Weines, 50,9 Prozent des Obstes, 53,4 Prozent des Schweinefleisches und 41,8 Prozent des Geflügels.

Das industrielle Kleingewerbe (mit Beschäftigtenzahlen zwischen 10 und 50) war bis Anfang der 80er Jahre in Ungarn so gut wie nicht vorhanden. 1980 hatten nur 0,7 Prozent aller Industriebetriebe weniger als 100 Beschäftigte und 14,4 Prozent weniger als 500. Seit 1981 wird durch legistische Maßnahmen in breitestem Ausmaß auf eine Erweiterung der Formen kleinbetrieblicher Produktion hingearbeitet.

Faßt man die publizierten Äu ßerungen zu diesem Thema zusammen, lassen sich die Motive für diesen — der kommunistischen Theorie widersprechenden — Wirtschaftskurs eindeutig herausfiltern:

• Man erwartet Mehreinnahmen des Staates durch die Legalisierung der bisher nur auf dem „schwarzen“ oder „grauen“ Markt angebotenen Tätigkeiten.

• Man erwartet eine volkswirtschaftliche „Reaktivierung“ der bei der Bevölkerung gehorteten Ersparnisse und damit kräftige Zündfunken für den stotternden Konj unkturmotor.

• Schließlich soll der Wettbewerb gefördert und das oft ungenügende Waren- und Dienstleistungsangebot der mittleren und größeren staatlichen Betriebe durch die Privatinitiative und die

Kleingenossenschaften kompensiert werden.

Moskau und Parteichef Juri Andropow beobachten mit viel Wohlwollen die unorthodoxen ungarischen Experimente, empfehlen sogar das ungarische Modell zum Studium.

Ob es viel nützen wird? Darauf mag eine wahre Episode Antwort geben. Als die Delegation der sowjetischen Landwirtschaftsexperten in der Mezotur-Staats- farm staunend vernommen hatten, daß die Privatbauern des Umlandes an die dreitausend Schweine mästen, die dann von dem staatlichen Betrieb verarbeitet werden, war die letzte Frage: „Wäre es nicht doch besser, alle Schweine gemeinsam zu züchten statt so verstreut über Dutzende Bauern?“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung