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Budenzauber auf böhmisch

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Kann das Vergnügen der alten Kirmes wiederkehren? Eine Gruppe junger böhmischer Künstler versucht, die Tradition in neuer Form wiederaufzunehmen. Ein Beispiel für Österreicher?

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Kann das Vergnügen der alten Kirmes wiederkehren? Eine Gruppe junger böhmischer Künstler versucht, die Tradition in neuer Form wiederaufzunehmen. Ein Beispiel für Österreicher?

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Wenn Sie einem Kind die Frage stellen, was eigentlich die Kirmes sei, antwortet es mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit: „Autodrom. Und Spielautomaten. Und Karussell.“ Das ist fast das einzige, was das einstige Kirchenfest mit Jahrmarkt — das einst vor allem Poesie, Erregung und Spaß war - in unserer Zeit bedeutet.

Die alte Kirmes stellte ein Phänomen dar, das kein modernes Medium bis heute übertroffen, geschweige denn ersetzen konnte. Mit dem Kirtag unserer Großväter und Urgroßväter verlor dieses Vergnügen im hohen Maße an Individualität, Unwiederholbarkeit und Naivität.

Ich denke dabei nicht nur an die künstlerische Naivität der Atmosphäre, nicht nur an Budenzauber und Lichterglanz, sondern auch an die deftigen, oft im Augenblick erfundenen Texte der Ausrufer, Marktsänger und Komödianten. Und wenn ich über Naivität spreche, denke ich an die Naivität als ästhetisches Programm. Der Mensch der Jahrhundertwende spürte instinktiv, daß sein alltägliches Leben, das durch Arbeitsroutine und Pflichterfüllung beengt war, ein Gegengewicht braucht. Er fand es unter anderem in der Naivität. Er wußte so gut wie wir, daß das Leben des Zirkus, der Kirmes und des Wandertheaters nicht real, sondern gewissermaßen ein Sonntagsleben war - was ihn nicht hinderte, an diesem irrealen Spiel unbefangen teilzunehmen. Unterhaltung sollte Befriedigung der Seele und Anregung des Geistes sein: das ahnte er. Und er spürte, daß es gut war, im fröhlichen Trubel eine aktive Rolle zu spielen.

Es hat natürlich wenig Sinn, das Vergangene mit der Gegenwart zu vergleichen, ohne dabei an mögliche Folgerungen zu denken. Doch hatte ich ein Erlebnis, und das erlaubt eine Feststellung. Sie lautet: die alte Kirmes lebt! Und gar nicht weit von hier, sondern im nachbarlichen Böhmen. Im Sommer erfreute sie mit ihrer Anwesenheit die Prager, den Herbst verbrachte sie in Ostrau, nächstes Jahr im Vorfrühling wird sie aufs böhmische und mährische Land reisen.

Wie kann man etwas über diese Kirmes erfahren? Ganz einfach. Man geht durch die Prager Altstadt, bleibt vor dem Rathaus stehen und beobachtet die altertümliche Aposteluhr. Langsam nähert sich ein Donnern. Es kommt immer näher. Da fährt auf dem Platz ein Zweispänner vor. Auf diesem sitzt eine Gruppe von Komödianten; ihre Gefährten folgen dem Wagen nach und musizieren. Der bunte Umzug wirkt reizvoll und ein wenig grotesk. Man kann ihm nicht widerstehen und läuft mit den anderen Neugierigen den

Komödianten hinterher. Sie lenken ihre Schritte zur „Schießinsel“. Von der Brücke führen nur etwa dreißig Stufen hinunter — und plötzlich befindet man sich in einer ganz anderen Welt.

Was man als erstes zu sehen bekommt, ist das „sich ausschließlich nach rechts drehende, ausschließlich mit Menschenkraft betriebene Karussell“. Es mutet wie ein kunstvoll gearbeitetes Spielzeug an und ist bis zum letzten Platz besetzt. Es scheint, als ob die „Computerjugend“ sich gerade von der Einfachheit und Altertümlichkeit angezogen fühlte. Dasselbe gilt auch für die Bajazzogruppen (jede für sich ist ein wahres Kunstwerk), nach denen die Kinder mit Stoffbällen werfen. Das Marionettentheater mit dem Stück „Zahn um Zahn“ der Brüder Forman ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man modernes Puppenspiel mit der besten Tradition des Genres verbinden kann. Auch hier sind die Puppen von hohem künstlerischen Wert. Gleich nebenan laden Clown Bilbo und seine Gefährtin Josefine zu ihrer Produktion ein. Sie ernten von klein und groß Beifallsstürme.

Im Klepls Familientheater läßt „Das Trauerspiel über die fürchterlichen Morde von Don Juan“ die Seele erschauern, ein Höhepunkt und zugleich Inbegriff all dessen, was Kirmes wollte und will. Was nämlich? Ihre heutigen Schöpfer, eine Gruppe von jungen bildenden Künstlern, Schauspielern, Puppenmachern und Musikanten antworten darauf eindeutig:

„Was wir machen, ist keine einmalige Aktion, sondern der erste Teil unseres Programms, das wir seit fast drei Jahren vorbereiten. Der Sterilität und Verstaubtheit der offiziellen Kultur ist sich zwar jeder bewußt, aber nur wenige tun etwas dagegen. Wir wollen zeigen, daß Kunst sich mit Vergnügen verbinden läßt und, wie früher, einen Platz auf der Straße oder auf dem Markt finden kann. Wir wollen die Leute aus ihrer Lethargie reißen. Unsere erste Saison zeigt uns, daß das möglich ist. Wenn es uns noch gelingt, das Mißtrauen der Ämter zu brechen, die uns viele Hindernisse in den Weg legen, dann könnte aus unserer Veranstaltung eine ganzjährige Kulturaktion werden. Im Sommer würde man unter freiem Himmel, im Winter in den Dorfgasthäusern spielen. Hoffentlich wecken wir im Publikum auf diese Art und Weise ein Bedürfnis nach aktiver Teilnahme und Kreativität.“

Was die jungen böhmischen Künstler wollen, ist einfach: eine Rückkehr zur Tradition, allerdings in moderner Form. Sie agieren bewußt, durchdacht, mit einem klaren Ziel. Schade, daß es der Wandertruppe nicht möglich ist, für einige Tage oder Wochen etwa einen Sprung nach Niederösterreich zu machen. Sie würde hier bestimmt ebenso großen Anklang finden wie drüben bei ihren Landsleuten. Vielleicht könnte es auch zu einer Zusammenarbeit kommen, ein stärkeres Bindemittel als Vergnügen, Lust und Lachen existiert doch nicht.

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