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Bufalinos Lügen

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Hegel hatte den Tod der Kunst prophezeit, und man könnte ihm heute recht geben, zumindest, was die Krise des Romans betrifft. Umso bedeutender erscheint das Verdienst des Pre-mio Strega. Er ist der angesehenste Preis für italienisch erzählende Literatur und versucht, jedes Jahr den besten italienischen Roman zu ermitteln.

Im Jahr 1947 hat die Schriftstellerin Maria Bellonci gemeinsam mit Guido Alberti - aus der Familie, die den „Strega“-Likör herstellt — diese Initiative ins Leben gerufen. Vierhundert Personen aus verschiedenen Sparten des Kulturlebens, Freunde der Bel-loncis, die sich gewöhnlich sonntags trafen und daher heute noch „Amici della Domenica“ heißen, schlagen jährlich zehn Bücher zur Auswahl vor. Fünf Werke kommen in die engere Wahl, aus denen jedes Jahr an einem Juliabend vor einem großen Publikum der Sieger gewählt wird.

„Der Preis selbst ist symbolisch mit nur einer Million Lire dotiert, er wird nicht erhöht, er ist ein Mythos“ erklären Guido Alberti und seine Wiener Gattin Lucia, die auf einem ganz anderen Gebiet, dem der Astrologie, bekannt geworden ist. Es ist nämlich nicht der Betrag, der diesen Preis so umworben macht, sondern die damit verbundene Qualifizierung des Siegers, die den Verkauf des Buches sichert. Aus diesem Grund sind nicht nur die Schriftsteller, sondern auch die Verlage interessiert, den Premio Strega zu gewinnen.

Ebenso bedeutend erscheint die Initiative der Bellonci-Stiftung, die jetzt nach Maria Belloncis Tod, in Zusammenarbeit mit dem Kulturassessorat der Stadt Rom, Leseklubs und eine Ausstellung organisiert, um sämtliche Werke, die seit zweiundvierzig Jahren für den Preis vorgeschlagen wurden, dem Publikum näherzubringen. Wenn man nämlich die Liste der Strega-Preisträger seit 1947 betrachtet, gewinnt man ein interessantes, historisches Dokument der erzählenden Literatur Italiens. Unter den ausgezeichneten Autoren befinden sich Elsa Mo-rante, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, Guido Piovene, Giuseppe Tomasi di Lampedusa und Umberto Eco.

Eco, dessen „Name der Rose“ in kürzester Zeit internationalen Ruhm erlangte, ist Experte für Massenmedien und konnte wieder stärker das Interesse weiter Publikumsschichten für das geschriebene Wort wecken.

Gesualdo Buf alino ist der Strega-Preisträger dieses Jahres, mit seinem Roman „Le menzogne della notte“ (Die Lügen der Nacht), erschienen bei Bompiani. Bufali-no ist Sizilianer, hat sich spät durchgesetzt und war mit seinem ersten Werk „Dicerie dell'untore“ (Gerüchte eines Schmierers) 1981 Träger des Campiello-Preises.

Beide Werke sind während eines langen Sanatoriumsaufenthaltes des Autors entstanden. „Die Lügen der Nacht“ sind Geschichten, die vier zum Tode verurteilte Sträflinge auf einer imaginären Mittelmeerinsel in der Nacht vor ihrer Hinrichtung erzählen. Ein literarisches Thema, das an Tausendundeine Nacht und an Boccaccios Dekameron erinnert — auch hier versucht man den Tod durch Geschichtenerzählen hinauszuschieben.

Die Erzählungen erweisen sich schließlich als Lügen; Bufalinos These ist, daß man zwischen Wahrheit und Lüge nicht unterscheiden kann. Die Handlung kann zwischen metaphysischem Kriminal - und erfundenem historischen Roman eingereiht werden und hat, wie so oft in der italienischen Prosa, weniger Gewicht als der elegante, rhetorisch ausgeprägte Stil.

Zweite bei der Wahl wurde Giu-liana Berlinguer mit ihrem Abenteuerroman „II braccio d'argen-to“ (Der silberne Arm). Die Autorin stammt aus der Familie des verstorbenen kommunistischen Parteisekretärs Enrico Berlinguer; ihr Buch ist aber interessanterweise beim katholischen Verlag Camunia erschienen.

Ein wichtiger Aspekt der zeitgenössischen erzählenden Literatur Italiens ist die Behandlung von aktuellen Problemen wie Mafia und Drogen, die die früher so verbreiteten Themen der Begeisterung für Mitteleuropa und der Aufwertung der Donaumonarchie — wie im „II complesso dell* Imperatore“ (Der Kaiser komplex) von Carolus Cergoly - völlig verdrängt haben.

Leonardo Sciascia steht auf diesem Gebiet an der Spitze der Rangliste mit seinen Büchern „II caso Moro“ (Der Fall Moro) und „A porte aperte“ (Bei offenen Türen), in denen er beschreibt, wie ein Mafiaprozeß geführt werden sollte. Gianpaolo Rugarli mit „La Troga“ behandelt mit groteskem linguistischem Mischmasch — Droge wird zu Troga — aktuelle Probleme.

„II paradiso terrestre“ (Das irdische Paradies) schließlich ist der Titel des soeben erschienenen Romans von Sergio Campailla; man nimmt an, daß es das Buch des Jahres werden könnte. Der junge Autor hat mitteleuropäische Ausbildung, ist Ordinarius für italienische Sprache und Literatur an der Universität Rom, und seine Erzählung „Una stagione in Sicilia“ (Eine Saison in Sizilien) wurde 1981 von der Kritik mit Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törless“ verglichen. Der neue Roman ist die Geschichte der von schwerster Trockenheit geplagten Bevölkerung Agrigents — statistisch das ärmste Gebiet Italiens — und der Mafia, die das öffentliche Gut Wasser profitbringend verwaltet.

„Das irdische Paradies“ zeigt den existentiellen Widerspruch zwischen der von der Mafia regierten Stadt und der Schönheit des Tals der Tempel, wo die herrlichsten dorischen Bauwerke des ganzen Mittelmeerraumes stehen.

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