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Bulgariens Havel als Wahlsieger

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Der neue und gleichzeitig bisherige Staatspräsident Bulgariens, Schelju Schelew - im zweiten Wahlgang der ersten direkten Präsidentschaftswahlen am 19. Jänner 1992 mit fast 53 Prozent vom Volk bestätigt -verdient es, in einer Reihe mit seinen Amtskollegen Havel aus der CSFR und Weizsäcker aus Deutschland genannt zu werden. Vor allem mit Havel scheint er zumindest die etwas verlegen und unbeholfen wirkende, jedoch Güte ausstrahlende, eher schmächtige äußere Erscheinung gemeinsam zu haben. Seine leise Stimme und die unaufdringliche Art zu diskutieren, wurde ihm während der TV-Konfrontation mit seinem penetrant-aggressiven Rivalen beinahe zum Verhängnis.

Seine sprichwörtlich aufrichtige Bescheidenheit ist kaum zu übertreffen. Da ihm Privilegien ein Greuel sind, bewohnt seine (einschließlich Schwiegermutter) fünf-köpfige Familie nach wie vor dieselbe etwa 60 Quadratmeter große Mietwohnung. Am wohlsten fühlt er sich in Turnschuhen und in abgewetzten Jeans. An Frack und staatsmännisches Gehabe mußte er sich erst allmählich gewöhnen.

Schelew absolvierte 1958 Philosophie an der Sofioter Universität. Im Jahr 1965 wurde er aus Sofia wegen politischer Abweichung in die Provinz verbannt, wo erbis 1972 verblieb. Dort schrieb er 1967 sein Hauptwerk - „Der totalitäre Staat",

welches erst 1982 unter dem Titel „Der Faschismus" in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheinen konnte. Ganze drei Wochen nach der Auslieferung an die Buchhandlungen wurde es allerdings verboten und auch

aus den Bibliotheken entfernt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich jedoch mehr als die Hälfte der Auflage bereits in Leserhand.

Obwohl darin die kommunistische Ideologie und Gesellschaftsordnung kein einziges Mal erwähnt wurden, konnte den Machthabern die enorme Brisanz des Werkes nicht lange verborgen bleiben: Die vielfache bis ins Detail gehende Übereinstimmung nationalsozialistischer und faschistischer totalitärer Strukturen mit jenen des realen Sozialismus drängt sich dem Leser geradezu auf. Auf besonders großes Interesse stieß das letzte Kapitel über den „Zerfall des faschistischen Staates". Darin entwickelt Sehe-

lew seine These von der Armee-Diktatur als Übergangsstadium zur liberalen Demokratie. Die Kette von historischen Analogien zum Geschehen in der jüngsten Vergangenheit reißt immer noch nicht ab.

Seit er am 1. August 1990 durch die konstituierende Große Volksversammlung - nach fünf erfolglosen Versuchen, die erforderliche Zweidrittelmehrheit für andere Kandidaten zu bekommen - im Rahmen einer geheimen Übereinkunft zwischen Sozialisten (ExKommunisten) und der damals noch in Opposition stehenden Union der Demokratischen Kräfte (SDS) nominiert und daraufhin gewählt wurde, ist Schelew - Mitbegründer und bis zum Antritt des Präsidentenamtes erster SDS-Vorsitzender - all das, was er nie sein wollte. Er, welcher 30 Jahre lang mit Leib und Seele Oppositioneller war, geriet so plötzlich selbst in die Korridore der Macht. Dort fand er sich jedoch an jene kurze Präsi-dentschaftsleine gefesselt wieder, an deren Verkürzung er vorher als Oppositionsführer am „Runden Tisch" mitgewirkt hatte, als es darum ging, die totalitären Strukturen restlos zu beseitigen.

Für die Zukunft will Präsident Schelew seine Machtbefugnisse erweitert sehen. Während der nächsten fünf Jahre will er sich besonders für eine rasche Durchführung der überfälligen Wirtschaftsreformen (Privatisierung und Rückgabe enteigneten Bodens) einsetzen.

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