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Byzantinische Starrheit

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Alexej Nikolajewitsch Kossygins Rücktritt als sowjetischer Ministerpräsident gehört zu den Ausnahmefällen in der sowjetischen Geschichte. Er ist der erste Premier, dem es gegönnt ist, in Ehren und noch zu Lebzeiten seinen Platz an der Spitze der Regierung abzugeben. Staats- und Parteichef Leo-nid Breschnew hat vergangene Woche auf der herbstlichen Tagung des Obersten Sowjet, Scheinparlament im östlichen Reich, Krankheit als Grund für diesen Verzicht angegeben.

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Alexej Nikolajewitsch Kossygins Rücktritt als sowjetischer Ministerpräsident gehört zu den Ausnahmefällen in der sowjetischen Geschichte. Er ist der erste Premier, dem es gegönnt ist, in Ehren und noch zu Lebzeiten seinen Platz an der Spitze der Regierung abzugeben. Staats- und Parteichef Leo-nid Breschnew hat vergangene Woche auf der herbstlichen Tagung des Obersten Sowjet, Scheinparlament im östlichen Reich, Krankheit als Grund für diesen Verzicht angegeben.

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Diese Begründung, ansonsten vorge bracht, um Degradierung und Entmachtung zu verschleiern, wirkt diesmal glaubhaft; Kossygin hat mindestens zwei Herzanfälle hinter sich. Gleichsam um zu unterstreichen, es gehe diesmal mit rechten Dingen zu, veröffentlichte die Partei einen Dankesbrief an den Scheidenden. Wenigstens nominell bleibt Kossygin Mitglied des Politbüros.

Beobachter der Kreml-Szenerie aber fragen sich, wer in dieserCierontokratie als nächster die Segel streichen wird. Ist es Leonid Breschnew selbst, dessen Krankheit kein Geheimnis ist, der nur mit Mühe sprechen kann und von Zeit zu Zeit Schwächeanfälle erleidet, die nur mühsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit verborgen werden können? Ein ganzer Industriezweig ist aufgeboten, um den ersten Mann in Staat und Partei bei Kräften zu halten.

Der neue Ministerpräsident Nikolai Tichonow ist kaum ein Jahr jünger als Kossygin. Im Kreml herrschen andere Gesetze: ein organischer Verjüngungsprozeß ist im Parteikabinett unbekannt. Verhältnismäßig jüngere Mitglieder des Politbüros werden zum Rücktritt gezwungen, oder es nimmt ihnen der Tod die Arbeit aus der Hand.

In der Herrschaft der Bejahrten halten sich die Siebzigjährigen gegenseitig an der Macht und wachen mit Argwohn über die ambitionierten Jüngeren, die nachdrängen. Ehrgeiz und Konspiration sind Begriffe, die in der Schaltzentrale der Sowjetmacht selten peinlich genau auseinandergehalten werden.

Andrej Kirilenko hat vor nicht allzu langer Zeit an seinem 74. Geburtstag erklärt, er rechne sich mit seinen Altersgenossen im Politbüro zu den Männern mittleren Jahrgangs. Andere denken offensichtlich ebenso, wie der im letzten Jahrhundert geborene Arwin Pelsche oder der Gralshüter der reinen Heilslehre, Michail Suslow, Jahrgang 1902.

Die sowjetische Hierarchie in ihrer heutigen Zusammensetzung fürchtet eines mehr als den Teufel: einen Wandel an der Spitze, eine Wachablöse, die den Führungsstil und das Panorama politischer Präferenzen im Inneren wie nach außen verändern könnte.

Die alten Herren im Moskauer Zentrum wissen, daß Veränderungen in der personellen Struktur und in der Aktion einen Prozeß auslösen, der schwer zu überschauen und noch schwerer zu kontrollieren wäre. Der lebendige, sprunghafte, nie vor Überraschungen gefeite Stil eines Nikita Chruschtschow ist schon lange aus den Gängen des einstigen Zarenpalastes gebannt.

Geblieben ist die byzantinische Starre, jeder Modernisierung abhold, Kontinuität und Bewahrung als, oberstes Gebot betrachtend. Unter diesem Motto hat Breschnew in sechzehn Jahren sein Team aufgebaut, Kompromisse geschlossen und letzten Endes alle Kräfte ausgeschieden, die Stetigkeit und Beständigkeit stören könnten.

Die Promotion des blassen, betagten, aber noch rüstigen Tichonow ist Beweis dafür, daß Breschnew seinen Führungsstil über seine eigenen Tage hinaus erhalten möchte. Er hofft auf das Gelingen dessen, was weder dem Tyrannen Stalin, noch dem charismatischen

Chruschtschow geglückt ist: die Bestimmung der Nachfolge.

Fortgeschrittene Jahrgänge haben keine Intentionen auf Veränderungen und noch weniger auf revolutionäre Umwälzungen. Demnach ist es aus der Sicht der Gewaltigen vorteilhafter, eine von Ärzten umgebene und gepflegte Altherrenmannschaft an der Macht zu halten, als jüngeren und dynamischen Kräften Platz zu machen.

Das hat sein Gutes in der Weltpolitik: Die sowjetische Politik bleibt berechenbar, die sowjetische Aggression hält sich noch in Schranken, Abenteuer eines Neulings bleiben ausgeschlossen. An einem raumgreifenden personellen Wandel im Zentrum ist übrigens auch den mittleren Kadern im Parteiapparat wenig gelegen.

Die anderen Mitglieder des Politbüros sind mehr oder weniger Geschöpfe Breschnews, mit dessen Unterstützung im Laufe der siebziger Jahre in das höchste Gremium aufgestiegen und darin belassen worden. In diesem letzten Jahrzehnt spielte sich im Kreml ein Selektionsprozeß ab, indem Männer die Führung bilden, die das Bild des gegenwärtig herrschenden Konservativismus mitzeichnen. In diesem keineswegs jugendlichen Zirkel ist der Nachfolger Breschnews zu suchen.

Dem KGB-Chef Juri Antropow, 66, wurden bislang wenig Chancen zugesprochen - durch sein Amt. Beispiele in Ostdeutschland und Polen zeigen allerdings, daß dieser Grundsatz der Kremlpolitik nicht unbedingt Bestand haben muß: Honecker wie Kania hatten vorher einmal die Führung des Geheimdienstes inne.

Gromyko, 71, ist seit einem Vierteljahrhundert zu eng mit sowjetischer Außenpolitik verbunden, als daß er über die nötige Hausmacht, unbedingte Voraussetzung für den Griff nach den Sternen, verfügte. Dimitri Ustinow, Jahrgang 1908, gesundheitlich angeschlagen, hat alle Hände voll mit dem militärischen Engagement in Afghanistan zu tun, um Ambitionen auf die Nachfolge zu haben. Bleibt noch Kirilenko, älter aber rüstiger als der Parteichef, aber chancenreich, die Kontinuität im Sinne Breschnews für die nächsten Jahre zu sichern.

Noch mehr fällt Konstantin Tscher-nenko, 69, ins Auge, ein Protege des Kremlherrn, der diesen enger noch als Tichonow auf dessen Weg nach Moskau begleitet hat und der seit zwei Jahren im Politbüro sitzt.

Unter dieser Konstellation stellt Kossygins Abgang weder ein besonders einschneidendes Ereignis dar, noch

störte er Breschnews Pläne zur Sicherung einer homogenen Hofübergabe.

Kossygin ist ein gewichtiger Teil der Geschichte des Sowjetreiches, eine Persönlichkeit, die aus dem Kreis der Gesichtslosen im Kreml herausragte.

In der Zeit der „kollektiven Führung", die seit 1964 mit beachtlichem Beharrungsvermögen, aber fortschreitender Vergreisung herrschte, ergänzte sich der Pragmatiker Kossygin an der Spitze der Regierungsbürokratie und des Wirtschaftsmanagements nicht immer mit dem Machtpolitiker Breschnew als Chef des Parteiapparates.

Heute, nach zwei schweren Rückschlägen in der Landwirtschaft, erinnert man sich möglicherweise im Kreml an Kossygins Versuche, die Wirtschaftsbande etwas zu lockern, Dezentralisierung voranzutreiben und den Produktionszellen mehr Spielraum zu geben. Gerade das hat Breschnew in besagtem Konservativismus vereitelt und es bei riesigen Investitionen in den Agrarsektor bewenden lassen.

Kossygin könnte gleichwohl künftig als Sündenbock für Rückschläge herhalten, Resultat von Fehlern, die im eigentlichen Sinne einer unbeweglichen und dogmatischen Politik anzulasten sind, von der sich Kossygin im Grunde genommen aber distanziert hat.

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