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Carters Jein zur N-Waffe

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So wenig zutreffend die sarkastische Feststellung erscheinen mag, der Name des Sicherheitsberaters von Jimmy Carter sei eigentlich Leonid Breschnew und nicht Zbigniew Brze-zinski, so sehr ist damit der Höhepunkt einer Verwirrung gekennzeichnet, die der Präsident der Vereinigten Staaten mit seiner jüngsten Entscheidung hervorgerufen hat: Die Neutronenwaffe soll vorläufig nicht produziert werden.

Die unmittelbare und barsche Reaktion Breschnews aus dem waffenstarren Wladiwostok auf die Entscheidung Carters hat die globalen Machtverhältnisse erneut in nicht mißzuverstehender Weise bloßgelegt. Die Sowjetunion denkt nicht daran, sich in Papiertiger-Geschäfte für das schon so lange Zeit hinausgezögerte zweite Abkommen über die Begrenzung strategischer Angriffswaffen (SALT II) einzulassen. Die Sowjetunion führt ihre ideologischen und militärischen Offensiven dort, wo es ihr opportun erscheint. Sie bestimmt den Zeitpunkt ihrer Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker - sie definiert, rechtfertigt und unterstützt zahlreiche „Befreiungsbewegungen“ und fördert die gewaltsame Beseitigung ihr nicht genehmer Staatsordnungen durch die modernste Form des Fremdenlegionärswesens. Könnte Breschnews Reaktion aber nicht auch Ausfluß des Mißvergnügens gewesen sein, daß ihm ein Buhmann entzogen werden könnte, mit dem er im Westen für permanente Unruhe sorgen kann?

In den freiheitlichen parlamentarischen Demokratien macht die Sowjetunion ihre natürlichen weltanschaulichen Gegner erst zu Zweiflern-an sich selbst, neutralisiert sie und dreht sie dann zu Mitläufern um, aus deren Reihen dann oft genug Mitstreiter hervorgehen, die meistens selbst nicht einmal wissen, wie sie dazu gekommen sind. Die Sowjetunion aber plant alle Mittel und Wege, die dahin führen. Sie läßt sich weder durch den schwachen Aufsichtsratsvorsitzenden der „kapitalistischen US-Incorporated“ noch durch ein nach wie vor ebenso schwaches Westeuropa mit seinen Nationalinteressen - und Interessentenvereinigungen - von den Zielen abbringen, die sie seit Jahrzehnten mit einer den Europäern wie Amerikanern gleichermaßen unverständlichen Geduld und einer ganz anders gearteten Auffassung von „Timing“ verfolgt

Der rechte Gebrauch der Zeit gehört

zu den wichtigsten Grundsätzen der politischen Strategie. Der Leidener Rechtsgelehrte Peter Idenburg bezeichnet das Wesentliche des Begriffes „Timing“ mit dem Ausdruck „handeln wenn die Zeit reif ist“. Die kardinale Tugend des „Timing“ ist das „Warten-können“, eine Eigenschaft, die in engem Zusammenhang mit der inneren Sicherheit des Betreffenden steht.

W,en wundert es nun, wenn allenthalben in Westeuropa und in den USA Versuche unternommen werden, die Motive für die irritierenden Entschlüsse des Präsidenten Carter zu ergründen? Welches Gewicht hat das Wort des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Gerald Ford, er sei für die Produktion der Neutronenwaffe, weil sie als reine Defensivwaffe dazu diene, die wachsende militärische Überlegenheit der Sowjetunion auszugleichen? Dies nur zwei der vielen Fragen, die man sich in diesen Tagen beiderseits des Atlantik stellt. Sie erfordern

nicht nur schnelle Antworten, sondern eine erkennbare Beherrschung des Arsenals der politischen Strategie und Taktik.

Das Verhalten der europäischen Staaten, soweit sie dem atlantischen Verteidigungsbündnis angehören, ist ein Gradmesser für die Ziele, die Moskau sich in den einzelnen westeuropäischen Staaten, Regierungen und Parlamenten gesetzt und erreicht hat. Der Druck der Sowjets auf die NATO-Staaten wird nach Carters Entschluß, die Produktion der Neutronenwaffe „vorläufig“ zurückzuhalten, nur noch zunehmen. Nach dem groben Einmischungsbrief Breschnews steht der Bundesrepublik Deutschland der zeitlich genau abgestimmte Besuch Breschnews bevor. Schon jetzt wird in den Hauptstädten du kleineren NATO-Länder mit Spannung erwartet, welche Begründung Bundeskanzler Schmidt dem Sowjetgast für seine in letzter Minute gegebene und mit dem britischen Premier Callaghan abge-

sprochene Zustimmung zur Produktion .der Neutronenwaffe geben wird.

Hierbei wird auch eine Rolle spielen, was der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, General Haig, noch am 4. April (also zwei Tage vor der offiziellen Bekanntgabe des Carter-Beschlusses) bei einem Gespräch mit dem neuen niederländischen Verteidigungsminister Schölten gesagt hat, „daß eine Entscheidung über die Produktion im Licht der Beratungsergebnisse mit demjenigen Land getroffen werden. soll, auf dessen Grundgebiet sie eingesetzt wird, also an erster Stelle mit Westdeutschland“. Am gleichen Tag hatte General Haig in einer Rede vor der „Atlantischen Kommission“ in Haag auf die zunehmende Bedeutung der Volksrepublik China hingewiesen, „deren neue, mehr pragmatisch ausgerichtete Führung sich weniger durch ideologische als vielmehr durch strategische Erwägungen leiten läßt“. General Haig weiter: „Es ist von größtem Belang, den neuen Führern in Peking zu zeigen, daß die westliche Welt eine zuverlässige und konsequente Politik verfolgt.“

Zweifellos wird der Besuch Breschnews in Bonn - eine Woche vor der Washingtoner Tagung des Nordatlantikrates im Mai - den eingeschworenen Entspannungspolitikern neuen Auftrieb verschaffen. Es ist daher auch mit einer Zunahme der Agitation gegen den Bau der Neutronenwaffe zu rechnen. Die sowjetische Propaganda hat gerade in den letzten Tagen den 30. Jahrestag des Ko-Existenzabkom-mens mit Finnland zum Anlaß genommen, die unterschwellige Verbreitung des schon früher genährten Gedankens einer „atomwaffenfreien Zone in Europa“ anzuheizen. Radio Moskau hält inzwischen an der unwahren Behauptung fest, die Neutronenwaffe bringe „das gegenwärtig bestehende Gleichgewicht zwischen den Kräften des Warschaupakts und der NATO in Gefahr“.

Die Gleichgewichtsstörungen im Atlantischen Bündnis sollten deshalb so schnell wie möglich beseitigt werden. Dazu ist das Vertrauen untereinander erforderlich. Erste Anzeichen, daß dieses Vertrauen doch endlich größer wird, gibt es. Daß sich die Westeuropäer scheinbar doch näherkommen, zeigte ein wenig das Kopenhagener Treffen der Regierungschefs der EG, wenn dieser Gipfel letztlich aber auch einen ersten Schritt einer Entfremdung zwischen den USA und Westeuropa darstellen könnte. Carter selbst ist es, der durch seine unberechenbare Politik diese Entfremdung heraufbeschwört, anderseits jedoch die Westeuropäer zum Zusammenrücken zwingt; selbst im verteidigungspolitischen Bereich inklusive Frankreich.

Der ganze Nervenkrieg um die Neutronenbombe hat auch einen „Nutzen“, zieht man die Stellungnahme des Bischofs von Münster, Heinrich Ten-humberg, heran: „Sie kann bewirken, daß alle Verantwortlichen die furchtbare Bedrohung erkennen, unter der wir leben, und daß die Politiker sich mit neuer Dringlichkeit dem Abrüstungsproblem zuwenden.“ In dieser Hinsicht ist das „Timing“ schon beinahe überfällig...

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