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Carters Politik des „Offenen Mundes"

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James Reston von den linksliberalen „New York Times“, Nestor der amerikanischen Leitartikler, charakterisierte Präsident Carters Außenpolitik kürzlich als eine „Politik des offenen Mundes“ und spielte damit auf eine Reihe von Erklärungen an, mit denen der Präsident Freund und Feind gleichermaßen schockiert hat. Reston zitierte auch Rosalynn Carter, die Gattin des Präsidenten, die angeblich über ihren Mann gesagt haben soll: „Er redet leider, bevor er denkt.“ (Worauf der Präsident indigniert geäußert haben soll: „Sie irrt. Ich denke immer.“)

Während aber Reston dem Präsidenten Originalität, Mut und Energie bescheinigt, überschlagen sich die Journalisten der Rechten in sarkastischer Kritik. So William Saphire, gleichfalls in den „New York Times“: Mein müsse während eines Besuches des japanischen Premiers in Washington die „Gaff squad“, das Team, das nach jedem Ausrutscher versucht, die Äußerungen des Präsidenten richtigzustellen, in Permanenz Dienst machen lassen. Die Japaner hätten wenig Sinn für schlechten Humor.

Tatsächlich erscheint der Präsident manchen Auslandsösterreichern, die noch vor dem Krieg in Wien lebten, wie die legendäre Frau Pollack, als ein Enfant terrible, das um jeden Preis originell sein will und dem das Gefühl für die Wahl des richtigen Zeitpunktes ebenso fehlt wie das Einfühlungsvermögen in die Probleme und den Charakter seines Gesprächspartners. Aber im Falle Carter sind es weniger Ausrutscher. Hier scheint doch eine gewisse Methodik im Spiele zu sein.

Niemand hat dem Präsidenten nahegelegt, gerade jetzt Erklärungen darüber abzugeben, wie er sich eine Lösung des Nahostproblems vorstellt. Trotzdem gab Carter, während Premierminister Rabin in Washington war und ohne ihn vorher zu informieren, Details eines Planes bekannt, der Israelis wie Palästinenser gleichermaßen vor den Kopf stoßen und dem Außenminister Vance keine geringen Schwierigkeiten bereiten mußte.

Die „New York Times“ zitierten in diesem Zusammenhang einen „erfahrenen Beamten des State Departments“: „In diesem Wahnsinn ist wahrscheinlich Methode. Aber ich muß zugeben, daß ich nur den Wahnsinn sehe.“

Ist hier bereits das erste Anzeichen für eine Abwertung Außenminister Vances zu erkennen, der beim Gespräch mit dem japanischen Premier nicht anwesend und durch Brzezins- ky, den Sicherheitsberater des Präsidenten, ersetzt worden war? Wird Brzezinsky der „Kissinger“ Carters? Wie dem auch sei, Israelis und Palästinenser sind gleichermaßen wütend.

Wie schnell aber auch anderswo Porzellan zerschlagen wird, zeigt Carters Vorgehen in Südamerika. Dort wurden Brasüien und Argentinien wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte angeprangert und mit einer Kürzung der Militärhilfe „bestraft“. Da diese Hilfe sowieso nicht sehr großzügig war, fiel es den beiden Hauptstaaten und Allierten des Westens in Südamerika nicht schwer, die Annahme der Militärhilfe überhaupt mit großer Geste zurückzuweisen.

Mit diesem Bruch entwickelte sich jedoch noch ein anderes Phänomen: Die politische Rechte und die Linke Brasiliens finden sich plötzlich eines Sinnes im „Yankeehaß“. Ein Resultat, das Jahrzehnte sowjetischer Außenpolitik nicht zu erreichen vermochte.

Man findet es in Brasüien naiv, die Welt glauben machen zu wollen, daß mit einem neuen Präsidenten Amerika plötzlich seinen Charakter gewechselt habe. Man nimmt Carter die Moralpredigt nicht ab und verbindet seine Interventionen gegen die Errichtung von Kernkraftwerken durch die Deutschen mit dem traditionellen Profitstreben der Yankees. Jetzt erst recht wird der Yankee wieder zum Watschenmann.

Angesichts all dieser Pannen, die, wie Mitglieder des Carterteams beteuern, nur auf die Außenpolitik beschränkt sind (denn im übrigen erfreut sich der Präsident tatsächlich einer großen Popularität), erhebt sich die Frage, ob ein Politiker von der Intelligenz Carters aus seinen Fehlern lernen und der Vernunft wieder die Tore öffnen wird.

Leute, die Carter gut kennen oder zu kennen glauben, bezweifeln jedoch die Möglichkeit eines solchen Umschwungs. Carter sei hartnäckig in der Einhaltung eines einmal eingeschlagenen Kurses und das einzige, das ihn zu einem Kurswechsel zwingen würde, wäre ein radikaler Stimmungsumschwung in der Wählerschaft. Denn Carter bereitet schon heute seine Wiederwahl vor, er ist der Typ des Politikers, der im Bürger zu allererst den Wähler sieht. Weil aber dieser Wähler vorwiegend an Butterbrotproblemen interessiert ist, dürften Carters mora- listische Bilderstürme in der Außenpolitik noch längere Zeit Narrenfreiheit genießen.

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