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Chagall, der Seher

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Marc Chagall, der die Farben genial wie ein Weltschöpfer zu verteilen versteht, schuf in den Jahren 1954 bis 1967 die „Biblische Botschaft“, eine Folge von Gemälden mit Szenen aus dem Alten Testament. Diese seine Bilder stellen keine Illustrationen dar, sondern sind geprägt von persönlichen Erlebnissen und Visionen. „Ich sah die Bibel nicht,. ich erträumte sie“, sagt Chagall dazu selbst. Und der französische Essayist Gaston Bachelard beschreibt die Wirkung der Chagall-Bibelbilder folgendermaßen: „Als ich in meiner Einsamkeit als Leser über das Heilige Buch meditierte, war die Stimme so stark, daß ich den Propheten nicht immer sah. Alle Prophetenstimmen klangen für mich wie Prophezeiungen. Indem ich nun die Seiten dieser schönen Sammlung betrachtete, lese ich das alte Buch auf eine andere Weise. Ich höre deutlicher, denn ich sehe besser, da Chagall, dieser Seher, die sprechende Stimme malt. In der Tat hat mich Chagall .lichthörig' gemacht.“ Eine Auslese dieser Bibef-arbeiten Chagalls erschien nun in deutschsprachiger Ausgabe bei Weber-Genf, unter dem Titel: „Die Biblische Botschaft“, Format 32 mal 25 cm, Leinen, 200 Seiten, 17 Farbreproduktionen nach Ölgemälden, 52 Farbreproduktionen nach Wassergemälden, dazu 21 Reproduktionen von Zeichnungen und eine Original-Farblitographie („Moses mit den Gesetzestafeln“') als Titelbild. Die Auswahl der Bilder zu diesem bibliophil gedruckten Werk besorgte Chagall selbst. Das Vorwort schrieb Jean Chatelain, Oberdirektor der Französischen Museen. Mehrere kurze kunstphilosophisehe Beiträge lieferten Gaston Bachelard, Meyer Schapiro und Robert Mar'teau. Der

Wortlaut der in Auszügen abgedruckten Heiligen Schrift stammt aus der Biblia Germani, die von Martin Luther übersetzt und 1589 herausgegeben wurde. Schlägt man dieses schöne Buch auf, ist es, als sei man über, eine unsichtbare Schwelle gegangen. Die leuchtenden, schwerelosen, „naiven“ Bilder Chagalls, die den Eindruck erwecken, als hätten sie die physikalischen Gesetze und Elemente überwunden, dafür aber alle Möglichkeiten von Farbe und Poesie in sich vereinen, sind allesamt grandios erschaute Visionen, geboren in der Seele des Malers. Wohlig empfindet man in seinen Gemälden die stets meisterhafte Vermählung von Formen, Linien und Farben zu immer neuen, überraschenden und herzerfrischenden Bildkompositionen. Wie in einem Sehrausch entstanden, wirken auf uns die prachtvollen Gemälde vom göttlichen Paradies, von der Erschaffung der Welt, den alten Propheten der großen Geschicke der Menschen, von Noah unter dem Regenbogen, von Abraham mit den drei Engeln, von Jakobs Traum und seinem Kampf am Jabbok, vom Hohenlied Salomos, vom Auszug aus Ägypten, von der Übergabe der Gesetzestafeln an Mose. Uberall die von Chagall so geliebte Farbenpracht; einmal dominiert das Rosenrot der Liebe, dann wieder das Blau des Alls und des Himmels, heilig wirkt das Gelb als Widerschein der „Flamme des Herrn“. Marc Chagall hat nach Vollendung dieser Arbeit sämtliche Werke dieser Gemäldeserie dem französischen Staat geschenkt, der wiederum zur Aufbewahrung der kostbaren Kunstwerke ein eigens zur Aufnahme dieser Gemälde entworfenes Gebäude, das „Haus der Biblischen Botschaft“ auf einem Hügel bei Nizza errichten ließ, das bereits 1973 eingeweiht wurde, und das, der Idee Chagalls zufolge, nicht ein Museum, sondern ein Ort der Begegnung für alle möglichen kulturellen Veranstaltungen in einer Atmosphäre der Freiheit und Brüderlichkeit werden wird. Dieses „Haus der Biblischen Botschaft“ bei Nizza soll dann für immer in den Dienst der Liebe der Menschheit gestellt werden und somit den lang gehegten, innersten Wunsch Chagalls erfüllen.“ Das reproduzierte Bild zeigt einen Ausschnitt aus Chagalls Entwurf zu „Jakobs Traum“.

DIE BIBLISCHE BOTSCHAFT. Von Marc Chagall. Verlag Weber-Genf, 200 Seiten.

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