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Chance in letzter Instanz

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Mit seiner Ankündigung, ab dem übernächsten Jahr werde in Österreich eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 Stundenkilometern eingeführt, hat Verkehrsminister Frühbauer einer Untersuchung vorgegriffen, deren Ausgang selbst ihm zu jenem Zeitpunkt noch nicht bekannt sein konnte.

Beide großen Kraftfahrervereinigungen, der ÖAMTC ebenso wie der ARBO, sind in der Frage der Tempo-limitierung seit langer Zeit einer Meinung. Nämlich, daß eine so einschneidende Maßnahme nur dann vertretbar ist, wenn eine wissenschaftlich ernstzunehmende Studie unabhängiger Fachleute ihre Effizienz erwiesen hat. Mit der Erarbeitung dieser Untersuchung wurde das Kuratorium für Verkehrssicherheit beauftragt, das Resultat liegt seit wenigen Tagen vor. Es wurde aber vom Auftrageber, dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, bislang unter Verschluß gehalten, um zunächst der Ressortchefin vorgelegt zu werden — alle Beteiligten erklären, es sei undenkbar, daß Minister Frühbauer das „Tempolimit 100“ bereits in Kenntnis des zu erwartenden Resultates angekündigt haben könnte.

Selbstverständlich steht ihm eine derartige Ankündigung auch ohne vorangehende Konsultation irgendwelcher Stellen zu — um so mehr, als in der Konferenz der europäischen Verkehrsminister seit längerem eine Mehrheit zur Einführung von Tempolimitierungen neigt. Wobei Europas Geschwindigkeitsbegrenzungen auffallend um die „magische Zahl 100“ pendeln. Man darf in Belgien, der DDR, Luxemburg und der Türkei 90, in Bulgarien, Westdeutschland, Rumänien und der Schweiz 100, in Frankreich, Griechenland, Irland (65 Meilen = 105 Stundenkilometer) und Großbritannien (70 Meilen = 113 Stundenkilometer) etwa 110 Kilometer pro Stunde fahren. In der Bundesrepublik sowie in der Schweiz sind die Tempobegrenzun-

gen ausdrücklich als Versuch deklariert, in Frankreich wird vorerst eine Überschreitung um 20 Stundenkilometer beim Überholen toleriert.

Wo die zu überbrückenden Entfernungen am größten und die Straßen am wenigsten überfüllt sind, gelten die rigorosesten Tempolimits. In Norwegen darf man nämlich nur 80 und auf den wenigen Autobahnen auch nur 90, in Schweden gar nur 70 beziehungsweise auf einem Teil der Straßen 80 und auf den Autobahnen 90 Stundenkilometer fahren. Was auf Autoreisen etwa von Stockholm nach Kiruna (was etwa der Fahrstrecke von hier nach Stockholm entspricht) die Dauervision aufeinander zurollender, eingeschlafener Lenker heraufbeschwört.

Wie immer das Gutachten und die daraus destillierten Gesetzesänderungen und (oder) Verordnungen aussehen mögen, den österreichischen Autofahrern kann die Vorstellung, etwa auf der überlasteten und nur zum Teil dreispurig ausgebauten Bundesstraße 17 beim Überholen eines mit 85 Stundenkilometern fahrenden Anhänger- oder Tankwagenzuges auf die Tachonadel achten zu müssen und die „magische Grenze“ von 100 Stundenkilometern nicht überschreiten zu dürfen, nur mit Schrecken erfüllen.

Während Kenner der verkehrsministeriellen Psyche in der Tempo-100-Ankündigung mehr eine Zornreaktion auf die von gewissenlosen Rowdies heraufbeschworene Katastrophenserie und andere Beobachter in der neuen österreichischen Verkehrspolitik den Ausfluß einer gewissen, durch den Ausbau der Massenverkehrsmittel in keiner Weise legitimierten Autofeindschaft sehen, äußert man sich im regierungsnahen Großklub ARBO über die Tempobegrenzungspläne zurückhaltend und spricht lieber über Anschnallgurten, der allerdings auf emotionelle Widerstände stößt (auch in dieser Frage durchaus eines Sinnes mit dem ÖAMTC).

Über die Effizienz eines eventuellen Gurtenzwanges auf Österreichs Straßen liegen sogar bereits handfest statistische Daten vor, Die — im Auftrag des ARBO — Franz Robert Billisich in einer Dokumentation („Der Sicherheitsgurt: die Chance in der letzten Instanz“) zusammengefaßt hat. Das Resultat läßt als wahrscheinlich erscheinen, daß mindestens zwei Drittel der Toten des „blutigen Wochenendes“ noch leben würden, wären sie angeschnallt gewesen. Volvo etwa, das Autowerk, das Anschnallgurten zum frühesten Zeitpunkt favorisierte, untersuchte in einem Jahr 30.000 Verkehrsunfälle — von allen in diesen 30.000 Unfällen verwickelten Personen wurde keine einzige getötet, wenn sie angeschnallt war und der Aufprall bei weniger als 100 Stundenkilometern erfolgte — und auch heute, ohne generelles Tempolimit, ereignen sich nur 1 bis 2 Prozent (!) aller Unfälle bei mehr als 100 Stundenkilometern Aufprallgeschwindigkeit und jeder zweite auf der Straße Verletzte verunglückt im Stadtgebiet. Selbst bei Überschlägen und in brennenden Fahrzeugen hatten angeschnallte Fahrer die wesentlich bessere Überlebenschance.

Allerdings ereignen sich die folgenschwersten Unfälle am Wochenende, und dies, nicht zuletzt, weil am Wochenende die Zahl der Passagiere pro Fahrzeug besonders hoch ist. Das Anschnallen von Kindern ist überdies problematisch — an Wochenenden, vor allem im Sommer, erscheint also eine Tempobegrenzung dem gesunden Menschenverstand auch ohne Kenntnis des Kuratoriumsberichtes äußerst sinnvoll. Nicht besonders sinnvoll erscheint die bislang in Österreich geübte Praxis, die Geschwindigkeit auf der Autobahn einzuschränken, auf den anderen Straßen aber freizugeben. Während ein gewisses behördliches Vorgehen am vergangenen Wochenende überhaupt am gesunden Menschenverstand der Behörde zweifeln läßt. Da wurde nämlich anrufenden Reportern, die wissen wollten, wie viele Autofahrer da oder dort wegen Raserei angezeigt worden waren, entgegnet, dies werde nicht bekanntgegeben — die Schuldigen würden schon die richtige Lehre ziehen, sobald sie den Strafbescheid erhielten.

Sollte sich dahinter nicht eine faule Ausrede dafür verbergen, daß man überhaupt niemanden angezeigt hat, wäre aus solchen' Bemerkungen zu schließen, daß man hierzulande noch nicht einmal begriffen hat, was Generalprävention auf der Straße heißt: Daß nämlich jeder angehaltene, an den Straßenrand gewinkte Fahrer hunderte Vorbeifahrende veranlaßt, Tempo und Fahrweise zu mäßigen. Darauf kommt es an. Und nicht auf das anonym-geheime, verschämte Kassieren.

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