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Chancen für Mitteleuropa

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Die Realität kennt jeder: Wachtürme, Stacheldrahtverhaue, Minenfelder, die den mitteleuropäischen Raum in zwei Hälften trennen. Dennoch: Gibt es Möglichkeiten und Chancen, um diese Grenzen für Mitteleuropas Menschen durchlässiger zu machen?

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Die Realität kennt jeder: Wachtürme, Stacheldrahtverhaue, Minenfelder, die den mitteleuropäischen Raum in zwei Hälften trennen. Dennoch: Gibt es Möglichkeiten und Chancen, um diese Grenzen für Mitteleuropas Menschen durchlässiger zu machen?

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Seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Spaltung Europas und damit die Spaltung Mitteleuropas vielfach so hingenommen, als wäre sie ein Naturgesetz. „Ost” und „West” sind zu prägenden Begriffen geworden, das politische Geschehen, die wirtschaftlichen Beziehungen, der kulturelle Austausch werden so dargestellt, als gäbe es die Mitte Europas überhaupt nicht mehr.

Es liegt auf der Hand, daß die Teilung eines Kontinents, die nicht nur Staaten spaltet, sondern auch die Lebensweise der Menschen zutiefst beeinflußt, auch das Denken der Betroffenen prägt. Dennoch erscheint die Frage berechtigt, ob es nicht an der Zeit wäre, daß Mitteleuropa wieder seine unverwechselbare eigene Identität gewinnt.

Was nun ist Mitteleuropa? Aus der Sicht des Geographen umfaßt die Mitte Europas wohl jenen Raum, den ein Kreis umspannt, der, wenn man als Radius die Entfernung Wien—Bern nimmt, die Städte München, Berlin, Warschau und Krakau, Prag und Ko-schau, Budapest, Klausenburg, Belgrad und Mailand miteinschließt.

Dabei ist es wohl nicht so sehr der geographische Raum als vielmehr die geschichtliche Entwicklung, die heute eine Gemeinsamkeit bewirken kann, haben doch die Völker Mitteleuropas durch Jahrhunderte eine Schicksalsgemeinschaft gebildet.

Dort, wo es gemeinsame Werte gibt, eine Geschichte, die sich oft überschnitten hat, manchmal Gemeinsamkeiten, dann wieder Gegensätze hervorbrachte, dort müßte es auch die Idee von der Gemeinsamkeit der Zukunft geben.

Dabei ist die Erreichung einer stärkeren Gemeinsamkeit, von der größeren Durchlässigkeit der Grenzen bis hin zu einem verstärkten wirtschaftlichen Austausch und intensiveren kulturellen Kontakten, wohl sehr stark davon abhängig, von welcher Idee, von welchem Bewußtsein man sich leiten läßt.

Vor allem müßte es gelingen, jenes Denken zu überwinden, das jede Frage in ein Ost-West-Schema preßt, und daher schon im Ansatz nur eine antagonistische Ost-West-Haltung zuläßt. Ein gemeinsames Bemühen wird dort noch verstärkt, wo es von einer gemeinsamen Idee getragen wird.

Die Staaten Mitteleuropas haben sich in den letzten Jahren um gute Beziehungen bemüht. Es müßte daher auch gelingen, jene Idee stärker in den Vordergrund zu rücken, die für diese Bemühungen einen guten Rahmen darstellen könnte.

Angesichts des gewaltigen militärischen Potentials, das gerade in Mitteleuropa konzentriert ist, muß es darum gehen, Mitteleuropa als Friedenszone zu erhalten. Das bedeutet einmal, daß Konflikte, die in Mitteleuropa selbst entstehen, auf friedlichem Wege gelöst werden, vor allem aber, und das scheint vielfach die größere Gefahr zu sein, daß Konflikte, die es ausschließlich zwischen den Großmächten oder irgendwo in der Welt gibt, nicht auf dem Rük-ken Mitteleuropas ausgetragen werden.

Was können nun die Staaten Mitteleuropas angesichts des gewaltigen Militär-Potentials und angesichts der offensichtlich unüberwindlichen ideologischen Unterschiede zur Erhaltung des Friedens beitragen? Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, weil es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen ist, die ideologischen Unterschiede abzubauen oder das militärische Potential zu verringern.

Uberhaupt: Gibt es bei gleich anhaltenden Spannungen zwischen den Supermächten für die Staaten Mitteleuropas eine Chance, ihre Beziehungen untereinander zu verbessern oder sind diese Beziehungen ausschließlich vom Verhältnis der Supermächte untereinander abhängig?

Eine Eigenständigkeit der Staaten Mitteleuropas ist wohl dann in erhöhtem Ausmaß möglich, wenn es neben der „Block-Logik” noch andere Maßstäbe für die Gestal-

,,Es geht heute darum, Gegensätze abzubauen und die Grenzen durchlässiger zu machen.” tung der zwischenstaatlichen Beziehungen in diesem Räume gibt. In welchem Ausmaß gibt es nun — neben der Staatsräson der Supermächte — eine eigene Maxime für die Gestaltung der Außenpolitik der kleineren und mittleren Staaten im Herzen Europas?

Neben dem großen Ziel der Aufrechterhaltung des Friedens geht es heute darum, daß die Entwicklung des internationalen Geschehens auch einen Beitrag zur Förderung der Lebensqualität leistet, daß die Grenzen für Geschäftsleute und Touristen leichter zu passieren sind, daß die persönliche Freiheit durch internationale Abkommen und die Hebung des Lebensstandards durch verstärkte wirtschaftliche Kooperation gewährleistet sind.

Darin liegt nun auch die Chance der Staaten Mitteleuropas. Sie können und sie sollen neben der von den Supermächten in diesem Raum betriebenen Machtpolitik ihre eigenen „internationalen” Beziehungen pflegen, die vor al-.lem darauf abzielen sollen, den Menschen dieses Raumes neue Möglichkeiten zu eröffnen. Eine gänzliche Loslösung dieser Politik von der Blockpolitik wird es allerdings kaum geben.

In welchem Ausmaß könnten daher spezifische Probleme der einzelnen Länder so koordiniert werden, daß eine internationale Lösung möglich wird. Ein moderner Regionalismus muß es sich zur Aufgabe machen, dieses Zusammenwirken zu regulieren und die Kluft zwischen den einzelnen

Staaten zu verringern. Freilich: Mitteleuropa kann dabei sicherlich weder die Supermächte noch die Nationalstaaten ersetzen.

Der derzeitige Stand der Zusammenarbeit in Mitteleuropa ist dadurch gekennzeichnet, daß es eine Reihe von Kontakten zur Lösung technischer Fragen gibt, die bilateral durchaus Fortschritte gebracht haben, daß aber gleichzeitig viele andere Möglichkeiten, insbesondere im Bereich der multilateralen Zusammenarbeit, noch kaum aufgegriffen werden.

Ohne Bewußtsein einer besonderen Zusammengehörigkeit in Mitteleuropa werden indessen die technischen Kontakte eine bestimmte Grenze nie überschreiten. Wie mühsam dabei der Weg ist, wird daraus ersichtlich, daß auch der Reiseverkehr nur langsam und schrittweise ausgebaut werden konnte.

Es gibt nun viele Chancen, die regionale Zusammenarbeit in Mitteleuropa zu verstärken, um gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen. Dazu ist ein politischer Wille notwendig, der am ehesten dort gegeben ist, wo diese Zusammenarbeit einer Erwartungslage der Bevölkerung entspricht.

Die Stadtentwicklung, der Ausbau der öffentlichen Verkehrswege bietet genauso die Chance einer Zusammenarbeit wie die gemeinsame Energieversorgung, die Nutzung der Wasserkraft oder gemeinsame Sportveranstaltungen. Die Schaffung von Naturparks, der Naturschutz, die

Schaffung von Erholungsgebieten bieten ebenfalls die Möglichkeit für gemeinsame Initiativen.

Der Schutz der Gewässer, die Bekämpfung ihrer Verschmutzung oder der Bau von Kläranlagen zeigen auf, wie groß die gegenseitige Abhängigkeit ist. Auch die Verschmutzung der Luft kann nur dort erfolgreich bekämpft werden, wo dies als eine Aufgabe über die Landesgrenzen hinaus akzeptiert wird.

Eine Zusammenarbeit im Bereich des Unterrichtswesens, der Berufsausbildung und der Forschung bietet genauso Chancen wie eine Kooperation im Bereich der Kultur, der Freizeit und des Sports. Gemeinsame Feriendörfer sind für das gegenseitige Verständnis so förderlich wie ein Theateraustausch oder eine Orchestertournee usw.

Schließlich wird die Legitimation einer regionalen Zusammenarbeit auch darin liegen, ob es ihr gelingt, einen Beitrag zur Lösung jener Probleme zu erbringen, die die Menschen heute zutiefst berühren: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Die Menschen müßten mit ihrem Bewußtsein, die Länder mit ihrer Politik dorthin kommen, wo die Zeit technisch steht: kurz vor dem Ende des zweiten Jahrtausends. Dann könnten Grenzen auch für Menschen so unwichtig werden, wie sie es für die Technik heute schon sind.

Welche Möglichkeiten bieten sich nun bei den gegebenen Machtverhältnissen in Mitteleuropa angesichts der vorhandenen sowjetischen Sicherheitsinteressen und im Hinblick darauf, daß in absehbarer Zeit mit der Auflösung der Blöcke nicht gerechnet werden kann? Ist eine Verstärkung der Zusammenarbeit über die Blockgrenzen hinaus ohne ausdrückliche Zustimmung Moskaus möglich?

Wenn man davon ausgeht, daß die sowjetische Interessensphäre

„Mitteleuropa kann freilich weder die Supermächte noch die Nationalstaaten ersetzen.” in Mitteleuropa kein Selbstzweck ist, sondern der Sicherheit der Sowjetunion dienen soll, eröffnen sich durchaus verschiedene Möglichkeiten.

Es müßte auch im Interesse Moskaus liegen, den mitteleuropäischen Ländern in seinem Machtbereich zumindest jenen Handlungsspielraum einzuräumen, der zur Vermeidung einer Krise notwendig ist.

Gerade angesichts der korrekten Beziehungen der neutralen Schweiz und des neutralen Österreich zur Sowjetunion muß die Überlegung erlaubt sein, ob nicht auch eine neutrale Tschechoslowakei und ein neutrales Ungarn für die Sicherheit der UdSSR günstiger sein könnten als Länder, in denen es systembedingt immer wieder zu inneren Unruhen und damit verbunden zu Zwangssituationen für die Sowjetunion kommt.

Die Chancen Mitteleuropas liegen nun darin, daß in Ungarn, Polen, in der DDR und in der CSSR die Menschen nach mehr Autonomie und Handlungsfreiheit streben. Könnte Moskau zu Einsicht gelangen, daß die Verwirklichung dieser Bestrebungen auch für die eigene Sicherheit förderlich ist, weil sie auf Dauer mehr Stabilität bedeuten?

Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Aber hat es in der Geschichte nicht auch immer wieder Entwicklungen gegeben, die als unwahrscheinlich galten?

Es kann heute nicht um die Beseitigung der Blöcke gehen, sondern darum, Gegensätze abzubauen und die Grenzen durchlässiger zu machen. Zweifellos kann dabei die Uberwindung der Teilung Mitteleuropas letztlich mehr durch den inneren Wandel des „sozialistischen Weltsystems” gefördert werden als durch äußeren Druck. Es gilt daher diesen Wandel zu unterstützen.

Der Autor ist Generalsekretär des ÖAAB und Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses des Nationalrates. Der Beitrag basiert auf Auszügen aus der Studie „Plädoyer für Mitteleuropa”, erschienen in der Schriftenreihe „Sicherheit und Demokratie”, hrsg. von Fritz Windhager.

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