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Chancen und Gefahren der ,Lehrerschwemme’

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Mancher Begriff aus dem Wörterbuch agrarpolitischen Unvermögens hat mittlerweile die bildungspolitische Diskussion in fragwürdiger Weise bereichert: nach dem „Schülerberg“ der Vergangenheit bewirkt eine Art

Schweinezyklus die „Lehrerschwemme“ der achtziger Jahre, „Krisengroschen“ in Form von Überstundenabbau und Gehaltseinbußen sollen den Lehrerarbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht bringen.

Die Angebotsschwemme und die befürchtete Lehrerarbeitslosigkeit in den kommenden Jahren ist nur Teil einer allgemeinen „Akademikerschwemme“, wie sie als „Ärzteschwemme“, „Juristenschwemme“ usw. von den jeweiligen Standesor- ganisationen in düsteren Farben ausgemalt wird.

Dabei nimmt der Arbeitsmarkt der Lehrer eine Sonderstellung ein. Staatliche Politik kontrolliert beide Seiten dieses Arbeitsmarktes. Für eine mittel- und langfristige Planung von Lehrerbedarf und Lehrerangebot sind somit günstige Voraussetzungen gegeben: der Staat ist praktisch alleiniger Nachfrager nach ausgebildeten Lehrern und ebenso monopolistischer Anbieter der Lehrerausbildung.

Der bildungspolitischen Praxis hilft diese Sonderstellung jedoch nicht weiter ohne mittel- und langfristige Entwicklungspläne für das gesamte Bildungswesen (die den Lehrerbedarf bestimmen) und ohne ein entsprechendes Instrumentarium zur Lenkung der Ausbildungsnach frage - Bedingungen, wie sie in vollem Umfang nur unter anderen ordnungspolitischem Vorzeichen gegeben sind.

Dennoch ist kaum verständlich, daß die Bildungspolitik in Österreich bislang auf die Informationsfunktion und den indirekten Steuerungseffekt einer öffentlich gemachten Lehrerbedarfs- und Angebotsprognose ver-

zichtet hat. Dies in einer Situation, in der gravierende Ungleichgewichte sich abzeichnen, andere Länder wie die Bundesrepublik bereits die Erfahrung einer erheblichen Lehrerarbeitslosigkeit machen, und der Mangel an exakten Prognosewerten nur zu Spekulationen und weitreichender Verunsicherung führt.

Es sind demographische Entwicklungen und zyklische Effekte, die die Problematik des künftigen Lehrerarbeitsmarktes ausmachen: der Geburtenrückgang seit 1963 und verstärkt seit 1969, Unregelmäßigkeiten im

Altersaufbau der Lehrer im Beruf, ein beschleunigter Ausbau der Lehrerbildung im Hochschulbereich zur

Deckung eines großteils einmaligen Nachholbedarfs im Zuge der Bildungsexpansion.

Der Rest ist simple Arithmetik: Schülerzahlen, in Abhängigkeit vom weiteren Zustrom zu weiterführenden Schulen, das Zahlenverhältnis zwischen Lehrern und Schülern, das Ausscheiden von Lehrern aus dem Beruf, die

Zahl der Lehramtskandidaten von Universitäten und Pädagogischen Akademien.

Ein gewichtiger „Rest“ ist jedoch auch bildungspolitische Entscheidung. Lehrerbedarfsprognosen gehen zumeist von einer vorgegebenen Struktur des Bildungswesens, von Vergangenheitstrends des Schulbesuchs oder von vorgegebenen Zielwerten aus - etwa des Maturantenanteils an einem Altersjahrgang oder der Schüler-Lehrer-Relation für bestimmte Schultypen. Zur Begründung rationaler Politik muß jedoch einem solchen technokratischen Planungskonzept die konkrete bildungspolitische Utopie eines Bildungswesens von veränderter Ge stalt gegenübergestellt werden, eines reformierten Bildungswesens, das allgemeinen bildungs- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen besser entspricht und das zugleich die Aufnahmefähigkeit für Lehrer grundlegend verändern kann.

Bildungspolitische Reformen standen in der Vergangenheit unter der doppelten Beschränkung eines zeitweise gravierenden Lehrermangels sowie eines Aufhol- und Beschleunigungsprozesses im Ausbau der

Bildungseinrichtungen von historisch nahezu einmaliger Dimension. Strukturreformen und inhaltliche Verbesserungen blieben gegenüber dem quantitativen Ausbau relativ vernachlässigt und allenfalls auf Versuchsformen beschränkt.

Für die Bildungspolitik der achtziger Jahre entfallen diese Beschränkungen. Gleichzeitig sind Reformkonzepte zumindest teilweise so weit entwickelt und erprobt, daß sie mit Breitenwirkung die Schulwirklichkeit der

Zukunft bestimmen können.

Abnehmende Schülerzahlen ermöglichen auch bei konstanter Zahl von Lehrkräften in den kommenden Jahren kleinere Klassen in den Schulen. Bei einem unveränderten Bildungssystem und bisherigen Trends des

Schulbesuchs ist der künftige Lehrerbedarf im wesentlichen auf den Ersatz für ausscheidende Lehrkräfte beschränkt Ein bildungspolitisches Reformkonzept jedoch wird mehr bedeuten müssen als die Fortschreibung des Bestehenden bei kleinen Verbesserungen und Korrekturen.

Hauptrichtungen solcher Reformüberlegungen werden sein müssen

• ein Ausbau des formalen Bildungssystems nach unten und oben, also eine Erweiterung und Verbesserung der Vorschulerziehung und des gesamten Bereichs der Weiterbildung und Erwachsenenbildung, einschließlich des

„zweiten Bildungsweges“ und eines ausgebauten Systems erneuter und wiederholter Lemchancen nach dem Verlassen der Schule,

• im allgemeinbildenden Schulsystem die Aufhebung einer Sozialschichten trennenden vertikalen Gliederung nach Schultypen, verbunden mit einer Individualisierung der Förderung und einer weitreichenden Differenzierung der Lernmöglichkeiten einschließlich einer Öffnung zur beruflichen Bildung,

• ein Ausbau schulischer Formen der beruflichen Bildung, verbunden mit einer verstärkten Integration auch der betrieblichen Lehrausbildung in das allgemeine Bildungssystem.

Wie immer ein derartiges langfristiges Reformkonzept im einzelnen konkretisiert wird - seine Realisierung setzt einen erheblichen personellen und finanziellen Mehraufwand voraus: mehr Lehrer in den Schulen für intensivere Betreuung, Beratung und die Entwicklung didaktischer Neuerungen, mehr Vorschulerzieher, mehr Erwachsenenbildner, mehr Berufs- und Betriebspädagogen für die betriebliche und außerbetriebliche

Berufsbildung, mehr Heimerzieher, Sozial-, Sonderund Heilpädagogen oder mehr Freizeitpädagogen.

Ein entschiedener bildungspolitischer Reformkurs, der auch pädagogische Aufgabenfelder außerhalb der Schule verstärkt miteinbezieht, wird aufnahmefähige neue Tätigkeitsbereiche für Lehrer und Pädagogen schaffen.

Dies bedeutet, daß sich der künftige Lehrerbedarf vom traditionellen Lehramtsabsolventen der Universitäten und Pädagogischen Akademien verschiebt zu neuen Qualifikationstypen speziell ausgebildeter Lehrer und

Pädagogen: der Bildungsreform muß eine Reform der Lehrerausbildung und eine verstärkte Ausbildung für außerschulische pädagogische Aufgaben entsprechen.

Die Chancen der „Lehrerschwemme“ für die Realisierung bil- düngspolitischer Reformkonzepte währzunehmen, setzt damit ein rechtzeitiges Umdenken in der Ausbildung von Lehrern selbst voraus.

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