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Digital In Arbeit

Chaos mit System

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Kürzlich marschierte eine Gruppe junger Leute durch die Redaktion. Sie wollten wissen, wie die FURCHE entsteht. Sie ließen sich nachher überhaupt keine Enttäuschung anmerken ...

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Kürzlich marschierte eine Gruppe junger Leute durch die Redaktion. Sie wollten wissen, wie die FURCHE entsteht. Sie ließen sich nachher überhaupt keine Enttäuschung anmerken ...

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Keine rennenden Reporter. Keine ratternden Fernschreiber. Keine fuchtelnden Redakteure. Nur ein verstört von der Schreibmaschine aufblickender Kritiker.

Die FURCHE war gerade fertig geworden. Was bei einer Wochenzeitung eine leider sehr kurze Verschnaufpause bedeutet. Die Hektik, die über Tageszeitungen alle 24 Stunden hereinbricht, tritt bei Wochenzeitungen nicht ganz so arg in Erscheinung, hält dafür aber den größten Teil der Woche an.

Dies hängt mit dem simplen Tatbestand zusammen, daß Zeitungen stets genau so viele Redakteure beschäftigen, daß keiner mit seiner Arbeitszeit auskommt. Und da der Journalist ohnehin 24 Stunden im Dienst ist, erübrigt sich auch die Bezahlung von Uber stunden — man kann ihn ja nicht dafür entlohnen, daß er beim Einschlafen an seine nächste Story denkt und mit der Pointe aufwacht. Genau besehen ermöglicht vermutlich nur der Idealismus dieser Verrückten den Fortbestand der österreichischen Presse. Bei der FURCHE ist es sicher so.

Selbstverständlich erledigt jeder Journalist mehrere Dinge zugleich. Nicht nur, daß er beim Lesen Radio hört und beim Essen in Gedanken schreibt, er konzipiert auch, während er „seine Seiten“ für diese Woche fertig macht, schon die der nächsten.

Für etwas Ruhe sorgt das schicksalhafte Faktum, daß acht Neuntel der Redaktion nur über zwei Telephonleitungen erreichbar sind, anderenfalls würde es ja ununterbrochen bimmeln.

Höhepunkt jeder Woche ist die „Kommentarkonferenz“ am Dienstag um 16 Uhr. Da erfahren die Redakteure, womit sich der Chefredakteur in seinem Leitarti-^ kel zu befassen gedenkt, und der Chefredakteur hofft, mit 20 bis 30 Vorschlägen für die Glossen auf Seite 1 überschüttet zu werden.

Dienstagen, an denen jeder mit seinem Einfallsblitz dem anderen seinen Trumpf aus der Hand schlägt, folgen solche, an denen man die Themen einander lustlos zuspielt.

Fall A: Der Gesellschaftspolitiker: „Ich meine, man muß ...“ Der Innenpolitiker:' „Nix muß man, aber ich will...“ Der Theaterkritiker: „Wissmascho, wiss-mascho!“ Der Außenpolitiker: , Also, ich würde vorschlagen, daß doch im Hinblick auf die, wie ich schon erwähnt habe, doch nicht von der Hand zu weisende Verflechtung jener Argumente...“ Der Herausgeber: „Die schulpolitischen Entscheidungen dieser Woche ...“ Der Wissenschaftspolitiker: „Aber die Warnung angesichts des neuen genetischen Ex-peri...“ Der Geschäftsführer: „Ja, aber griffig, griffig!“ Der Chefredakteur: „Also, du machst die Genetik und du die Benya-G'schicht, die Außenpolitik fange ich im Leitartikel ab.“

Fall B: Der Innenpolitiker: „Das ist doch ein Thema für dich!“ Der Gesellschaftspolitiker: „Aber das ist doch Innenpolitik!“ Der Innenpolitiker: „Aber die gesellschaftspolitische Relevanz!“

Fall A kommt öfter vor. Anschließend wird über die am Kopf der ersten Seite rot gedruckten Hinweise auf den Inhalt diskutiert — mitunter heftiger als über das ganze Blatt.

Falls schon die Einigung darüber erfolgt ist, wer am folgenden Tag den 8-Uhr-Zug nach Sankt Pölten zu nehmen hat, um im

Pressehaus Sankt Pölten letzte Korrekturen und Kürzungen durchzuführen, wird nun der Inhalt der nächsten Nummer besprochen.

Wieder reißen sich alle um den „Aufmacher“ (die große Geschichte auf der ersten Seite) sowie um den „Schwerpunkt“ auf Seite 3 — oder keiner will und alles blickt angelegentlich teils auf den Flora, teils auf den Hausner an der Wand, so daß die Entscheidung im Verordnungswege erfolgen muß. Offen Gebliebenes wird am Donnerstag in einer weiteren Konferenz erledigt.

Das Ergebnis jeder Redaktionskonferenz ist ein Kompromiß zwischen den Themen, die die Aktualität gebietet — und dem, was unabhängig von jeder Aktualität der ganzen Redaktion oder einem Redakteur mit seinen Interessen, Schwerpunktsetzungen, auch Obsessionen, als wichtig erscheint. Was den einzelnen beschäftigt, verfolgt, was er fördern, wovor er warnen will, das prägt — im Rahmen der „Blattlinie“ — in hohem Maß „die Zeitung“, macht sie lebendig und interessant.

Die FURCHE war immer und ist auch heute von der Vielfalt der Individualitäten geprägt, die für sie schreiben. Diesen Temperamenten verdankt sie ihr oftmaliges „Anecken“, und diesem „Anecken“ verdankt sie es, daß sie lesenswert geblieben ist.

Bekanntlich schreiben die Redakteure nur einen Bruchteil der FURCHE. Darum vergeht in den Konferenzen auch viel Zeit dadurch, daß Redakteure ihren Kollegen und dem Chefredakteur nicht nur Themen „verkaufen“, ihre Sicht der Dinge begründen, sondern darüber debattiert werden muß, wer gebeten werden soll, einen Beitrag zu schreiben.

Beziehungsweise welcher Artikel aus den überquellenden Mappen zum Druck gelangt.

Wie die Welt ist — mitunter bleibt der Beitrag eines sehnsüchtig harrenden Autors in der Mappe, und ein anderer wird händeringend beschworen, zu schreiben. Oft liegt es daran, daß keiner sich traut, zehn Seiten auf ein Fünftel zu kürzen.

Der Rest ist Technik: Fotosatz, demnächst vielleicht sogar „on line“ von Wien nach St. Pölten „getastet“, modernste Textverarbeitung, gepaart mit dem guten alten Rotations-Hochdruck. Entsinnlichte, nicht mehr greifbare, kaum mehr faszinierende, aber höchst effiziente Technik.

Das Bindeglied sind die „Tasterinnen“, zwei freundliche Damen, die nicht nur die Kommandos für den Lese-Computer beherrschen, sondern schon auch einmal verstört anrufen und fragen: „Herr Redakteur — schreibt man wirklich Schnurrbart mit einem r ?“

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