7026887-1989_15_12.jpg
Digital In Arbeit

Chaplin auf der Flucht

Werbung
Werbung
Werbung

Zum hundertsten Geburtstag des großen Schauspielers am 16. April 1989

In den Vereinigten Staaten ging die Diffamierung weiter. Die American Legion begann, Boykottposten vor den Kinos aufzustellen, in denen „Limelight“ lief, worauf mehrere größere Kino- Ketten — Fox, Loews und RKO — dem Druck nachgaben und den Film bald nach dem Start wieder zurückzogen.

Hedda Hopper veröffentlichte eine üble Attacke in ihrer landesweit publizierten Kolumne: „Nie-

mand kann bestreiten, daß Chaplin ein guter Schauspieler ist. Das gibt ihm aber nicht das Recht, gegen unsre Sitten und Bräuche zu verstoßen. Er verabscheut alles, was uns etwas bedeutet, er schleudert uns unsre Gastfreundschaft ins Gesicht… Ich verabscheue alles, was ihm etwas bedeutet … Gott sei Dank sind wir den Schmutzfink los.“

Die amerikanische Presse war allerdings nicht einhellig dieser Meinung. „The Nation“ vom 4. Oktober 1952 schrieb: „Was für politische Ansichten er auch ha ben mag… Charlie Chaplin kann kaum als eine offene Bedrohung für amerikanische Institutionen angesehen werden… Chaplin ist ein Künstler, der mit seinem leuchtenden Talent seine Wahlheimat seit Jahrzehnten mit Glanz überstrahlt und der ganzen Welt Freude beschert hat.“ Am 30. Oktober verlieh die Hollywood Foreign Press Association „Limelight“ eine Ehrenurkunde. Charles Chaplin Junior nahm sie im Namen seines Vaters entgegen.

Zunehmend wurde ihm klarer, daß er jetzt nicht den Versuch unternehmen wollte, in die Staaten zurückzukehren; er mußte sich daher Gedanken darüber machen, wie er sein Vermögen nach Europa transferieren konnte. Da es ihm nicht möglich war, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, mußte Oona wohl oder übel nach Hollywood reisen.

In den zehn Tagen ihrer Abwe senheit — praktisch das erste Mal, daß sie in ihrer neunjährigen Ehe getrennt waren — machte sich Chaplin schreckliche Sorgen. Seine schlimmste Befürchtung war, daß die amerikanischen Behörden Oona irgendwie daran hindern könnten, das Land wieder zu verlassen. Sie entdeckte, daß das FBI nach ihrer Abreise das Personal vernommen hatte, in dem Versuch, etwaiger moralischer Verderbtheit in dem Hause auf die Spur zu kommen.

Es war offensichtlich, daß das Bureau unbedingt irgend etwas - egal was - aufdecken wollte, das die Andeutungen des Justizministers erhärten konnte. Jeder, der mit Chaplin zu tun gehabt hatte, auch Tim Durant und sein Anwalt, wurde vernommen; außerdem alle wesentlichen Beteiligten des Barry-Prozesses. Die Umstände von Paulettes mexikanischer Scheidung wurden erneut unter die Lupe genommen. Selbst Lita wurde zu ihrer Ehe befragt, die mehr als ein Vierteljahrhundert zurücklag. Sie verweigerte stolz jegliche Information, die dazu dienen konnte, ihren ehemaligen Mann zu diffamieren.

Das bedauernswerteste Opfer der Belästigungen durch das FBI war Wheeler Dryden. Seit er Mitarbeiter im Chaplin-Studio geworden war, war er Chaplin vollständig ergeben. Sogar mehr als das: Wheeler vergötterte seinen il- lustren Halbbruder. Noch heute existieren im Chaplin-Archiv kleine Päckchen, säuberlich verpackt und verschnürt und in Wheelers Handschrift beschriftet. Er fühlte sich im Stich gelassen, als zuerst Chaplin und dann auch Sydney Kalifornien verließ; die Vernehmungen durch das FBI versetzten ihn in Angst und Schrecken. Er redete sich ein, das FBI wolle sein Essen vergiften,

und weigerte sich, das Haus zu verlassen.

Am 27. November 1952 traf Oona wieder in London ein, und einige Tage später reiste die Familie in die Schweiz. Da Chaplin nicht vorhatte, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, erschien ein Wohnsitz in der Schweiz vom finanziellen Standpunkt aus am günstigsten. Während sie nach einem festen Domizil suchten, zogen sie in das Haus Beau Ri vage in Lausanne ein - ein Grand Hotel alten Stils, das bei Exil-Monarchen sehr beliebt war. Von Lausanne aus reisten sie nach Rom zur italienischen Premiere von „Limelight“. Chaplin wurde der Orden Al Merito della Repubblica verliehen. Das Ergebnis wurde allerdings durch eine Demonstration von Rechtsextremisten überschattet, die Chaplin mit Gemüse bewarfen. Später sagte er, daß er den Zwischenfall von der komischen Seite gesehen und darüber gelacht habe. Ęr lehnte es ab, gegen die jugendlichen Straftäter gerichtlich vorzugehen.

Aus der soeben im Diogenes-Verlag erschienenen Biografie „Chaplin - Sein Leben, seine Kunst".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung