6973518-1985_39_03.jpg

China: Ein Land und zwei Systeme?

19451960198020002020

China öffnet seine Grenzen. Für westliches Kapital und moderne Technologie. Die Devise lautet: Ein Land und zwei Systeme. Wo aber sind die Grenzen des Systems?

19451960198020002020

China öffnet seine Grenzen. Für westliches Kapital und moderne Technologie. Die Devise lautet: Ein Land und zwei Systeme. Wo aber sind die Grenzen des Systems?

Werbung
Werbung
Werbung

„Die frühere Abkapselung ist ein Grund für unsere wirtschaftliche Rückständigkeit. Es ist nicht möglich, ein Land mit verschlossenen Türen aufzubauen.“ Jia Shi, Vizeminister für Außenhandel und Außenwirtschaft, hält die Heranziehung ausländischer Investitionen und ausländischen Kapitals für „eine notwendige Ergänzung der sozialistischen Wirtschaft“.

Die Öffnung nach außen gilt, versicherte Jia Shi, „allen Landem weltweit, ob kapitalistisch oder sozialistisch, ob Entwicklungsland oder nicht“. Ausgenommen werden nur Südafrika, Israel und Süd-Korea — zumindest offiziell.

In der Tat: Obwohl die Beziehungen zwischen Beijing (Peking) und Moskau noch immer frostig sind, ist man sich, wie Vizeaußenminister Zhou Nan (siehe Kasten) betont, buchstäblich handelseins: wenigstens auf dem Gebiet des Warenaustausches.

Chinas Außenwirtschaftsinteressen sind auch grundsätzlich anders gelagert: Uber 90 Prozent des Außenhandels entfallen auf nicht-kommunistische Staaten, zwei Drittel allein auf Japan, Westeuropa, Hongkong und die USA.

Reich an Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten, bewundernswert in der Lage, eine Milliarde Menschen zu ernähren, aber wirtschaftlich unterentwickelt und technisch rückständig, bauen Chinas Reformer auf die Belebung der Wirtschaft im Inland durch die Öffnung für außen.

Dazu kommt die Devise, die im Ringen um das Hongkong-Abkommen zwischen Beijing und London ausgegeben wurde: Ein Land und zwei Systeme.

Wenn am 1. Juli 1997 die chinesische Souveränität über die Kronkolonie wiederhergestellt werden wird, garantiert Beijing bis zum Jahr 2047, daß sich am gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System des drittgrößten Finanzzentrums der Welt nichts ändert.

Ein Konzept, das vorsorglich sogar in der neuen Verfassung des Jahres 1982 verankert ist: „Der Staat kann, wenn nötig, Sonderverwaltungsgebiete einrichten. Die in den Sonderverwaltungsgebieten einzurichtenden Systeme sollen vom Nationalen Volkskongreß den gegebenen Verhältnissen entsprechend gesetzlich festgelegt werden.“

Ein Konzept zudem, mit dem die Volksrepublik hofft, Taiwan in die Festlandarme schließen zu können: die Wiedervereinigung.

Zhou Nan weiß von nicht unmaßgeblichen amerikanischen Kreisen zu berichten, die sich eine „Rückkehr Taiwans ins Vaterland“ unter diesen Voraussetzungen vorstellen könnten. Doch vorderhand ist das Wunschdenken.

Ob die Hongkong-Lösung auch für die angestrebte Wiedervereinigung von Bedeutung sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie Beijing die Devise in die Realität umzusetzen versteht.

Ein Land und zwei Systeme: Der wirtschaftliche Pluralismus, das Nebeneinander von kapitalistischem und sozialistischem System, ist vergleichsweise das geringste Problem.

Aber gesellschaftlicher und politischer Pluralismus? Die Grenzen des Systems und seiner Bereitschaft zur Öffnung scheinen dort zu liegen, wo es darum geht, die Macht im Lande zu teilen. Aber nichts deutet darauf hin, daß die Kommunistische Partei Chinas auch nur in Ansätzen bereit ist, politische Macht abzutreten.

Mit dem Profit verhält es sich da anders, wobei es — streng nach der Terminologie — nicht um ihn, sondern um die Befriedigung der „Bedürfnisse des Volkes“ geht.

Und so trifft sich chinesische Bedürfnisbefriedigung mit westlichem Profit. Das Ausland hat Kapital und Technologie, China einen unermeßlichen Markt.

Die Modernisierung der Wirtschaft, die Förderung des privatwirtschaftlichen Sektors und der ausländischen Investitionen — die FURCHE wird demnächst darüber berichten — hat jedenfalls der Volksrepublik einen Aufschwung beschert, der die Reformer heuer besonders stolz den Jahrestag der Gründung am 1. Oktober begehen lassen wird: Nachdem Landwirtschaft und Industrie im Vorjahr um über zwölf Prozent gewachsen sind, ist die Wachstumsrate im ersten Halbjahr 1985 deutlich über 20 Prozent geklettert. Aber, schränkt Jia Shi ein, „die Qualität läßt noch zu wünschen übrig“. Konjunktur am Siedepunkt, mit allen Problemen der Überhitzung, auch mit Inflation.

Jetzt steigt Chinas starker alter Mann Deng Xiaoping auf die Bremse. Bei der außerordentlichen Parteikonferenz (FURCHE 38/1985) wurden nicht nur Altfunktionäre, sondern auch Wachstumszahlen zurückgestutzt: Sieben Prozent werden im Fünf jahresplan 1986-1990 angestrebt.

Gut Ding darf eben Weile brauchen: „China im Aufbau“ wagt die Prognose, daß das Land „etwa 50 bis 60 Jahre zu seiner Modernisierung“ benötigen wird.

In vier wirtschaftlichen Sonderzonen und 14 Küstenstädten mit Sonderstatus kommt die moderne Zeit praktisch über Nacht. Shanghai etwa, vor fünfzig Jahren noch eine der bedeutendsten Metropolen der Welt, das Banken-und Handelszentrum Asiens, hofft auf neuen Glanz im alten kolonialen Prunk, strebt danach, ein zweites Hongkong werden zu können.

Das Interesse ausländischer Geschäftsleute und Investoren gilt sicher dem Milliarden-Markt und dem verhältnismäßig billigen Angebot an Arbeitskräften, trotzdem tut China alles, um dieses Engagement auch zukunftssicher erscheinen zu lassen. Erstens garantiert die Volksrepublik „den Schutz der Interessen der Investoren“ (Jia Shi). Zweitens will China seine Tore noch weiter öffnen und „sie nie mehr wieder schließen“ (Ministerpräsident Zhao Ziyang).

Drei Spannungsfelder

Problemlos ist freilich das Konzept der wirtschaftlichen Aufrüstung über Sonderzonen und Freihäfen nicht: Da wird ein Land mit praktisch zweieinhalb Systemen geschaffen, mit Regionen von höchst ungleichen Lebens- und Entwicklungschancen. Wie lange lassen sich soziale und — möglicherweise im Gefolge—politische Spannungen verhindern?

Wie auch immer: Heute sind das die „kapitalistischen Schulbänke“, die Chinas Reformsozialisten drücken, weil es neben Geld und Technologie auch an Erfahrung mangelt.

Von den Kapitalisten lernen, auch keine Selbstverständlichkeit im chinesischen Selbstverständnis. China war und fühlte sich in der Vergangenheit nie als Schüler anderer, sondern immer als deren Lehrmeister. *

Eine völlig neue Situation. „Der Chinese lebt heute in drei Spannungsfeldern“, umreißt ein Österreicher, der seit längerer Zeit in Beijing lebt, die Ungewißheit der Entwicklung, die der gegenwärtige Modernisierungskurs letztlich nehmen wird, „nämlich einerseits das traditionelle konfuzianische Erbe, andererseits die Fremdphilosophie des Marxismus-Leninismus und der Kapitalismus im weitesten Sinn.“ Nun steht der Prozeß der Selbstfindung bevor.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung