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China: Laufpaß für Karl Marx

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Daß Marx, der vor 101 Jahren verstarb, mitsamt Engels und Lenin nur einen beschränkten Erfahrungskreis hatte, sodaß sie für moderne Probleme keine angemessenen Lösungen bieten, daß ihre Visionen veraltet sind und dem Wandel der heutigen Verhältnisse nicht entsprechen, ist im Westen alter Käse.

Wenn aber Pekings ,J?eople's Daily” auf der ersten Seite im Leitartikel solche Binsenwahrheiten verkündet, spitzt die ganze Welt die Ohren. Und wenn am folgenden Tag schon eine Einschränkung erfolgt, der orthodoxe Marxismus vermöge nicht alle Probleme Chinas zu lösen, ist leicht zu ermessen, daß im Innern des kommunistischen Machtapparates keineswegs alle mit der scharfen Kritik an der Orthodoxie einverstanden sind, die aus dem Lager der herrschenden Pragmatiker um den starken Mann Deng Hsiaoping stammt.

Kein Zweifel besteht darüber, daß sie langsam, aber methodisch die Grundprinzipien des Kommunismus demontieren, weil sie sich Rechenschaft geben, daß all die mit lauten Fanfaren durchgeführten Experimente des Katastrophenbaumeisters Mao — der große Sprung vorwärts, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Kulturrevolution — jedesmal im Chaos endeten und die Entwicklung des Landes um Jahrzehnte zurückwarfen.

35 Jahre nach Errichtung der glorreichen Volksrepublik erreicht das Durchschnittseinkommen gerade 300 Dollar. Fehlgeschlagene Experimente, Rattenkämpfe an der Spitze der Machtpyramide, Korruption und schlechtes Management unterhöhlten das Prestige der Partei.

Die Troika Deng, Generalsekretär Hu Yaobang und Premier Zhao Ziyang will den Karren durch die vier Modernisierungen aus dem Sumpf ziehen: um die Industrie und Landwirtschaft zu modernisieren und als politische, wirtschaftliche und militärische Supermacht ins neue Jahrtausend zu schreiten. Die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien, die Abschaffung der Kommunen, die Liberalisierung der Landwirtschaft zeigen bereits auffallende Resultate. .

Vor gut zwei Monaten wurden die Reformen zum Ansporn der Privatinitiative und des Profit-motives, das allein die Chinesen zur Arbeit aneifert und die auf dem Land gute Resultate gebracht hatten, auch auf die Stadt sowie die Industrie ausgedehnt. Der Würgegriff der zentralen Planung durch die Bürokratie wird nun landesweit gelockert: freies Unternehmertum, Wettbewerb und Marktwirtschaft sollen China vorwärtsbringen.

Deng erließ Gesetze, die „Joint Ventures” mit kapitalistischen Firmen des Auslands erleichtern. Er läßt junge Manager in Hongkong und an neugegründeten „Business Schools”, z. B. in Dali-an, in den Methoden der kapitalistischen Wirtschaftsführung ausbilden. In Hongkong allein sollen an die 30.000 Manager durch die Mühle der Wirtschaftswissenschaften gedreht werden.

Gleichzeitig berichtet die Presse über die Strafverfolgung korrupter Kader, die in großer Zahl aus der Partei ausgeschlossen werden. Ihre Verbrechen reichen von Bereicherung, Unterschlagung, Bestechung bis zu Schmuggel und Vergewaltigung.

Fragen tauchen aber dennoch massenhaft auf. Wie lange kann der 80jährige Deng mit seinen Leuten diesen Kurs halten? Wie reagieren die unregenerierten Maoisten, die im Ministerium für Staatssicherheit und in der Armee immer noch an den Hebeln der Macht sitzen, auf diese Offensive der „Kapitalistenknechte”?

China kann auf diesem Kurs keinem bewährten Modell folgen, es sei denn in etwa dem Experiment Jugoslawiens. Es muß daher den Versuch mit allen Risiken auf eigene Kosten wagen. Die Geschichte der Volksrepublik aber zeigte immer wieder starke Ausschläge ins Extrem.

Deng kann nur hoffen, daß der Erfolg ihm recht gibt und das Trauma der verhaßten Kulturrevolution im Volk tief nachwirkt.

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