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Chinas neuer langer Marsch

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Vor zehn Jahren ist die Volksre-piiblik China xmter ihrem heute so umstrittenen Steuermann der Post-Mao-Ära, Deng Xiaoping, zu einem neuenlangenMarschavi^ebrochen, dieses Mal in Richtung Westen. Die Marschrichtung w\irde von der sozialistischen Führung des Reiches der Mitte selbst gewählt, nicht vom Ausland erzwungen wie anno dazumal zum Ausklang der feudalistischen Epoche.

Unter streng patriotischen Vorzeichen experimentiert China heute mit seinem eigenen Modell des Sozialismus. Es geht um die Industrialisierung des volksreichsten Agrarstaates der Erde unterEinbeziehung von Kapital und Technologie bei gleichzeitigem A\isschluß kultureller und politischer Werte des Westens. Daß eine, wenn auch noch so restriktive, wirtschaftliche Öffnung tmweigerlich Fordenmgen nach politischer Liberalisierung nach sich zieht, dafür legen die jüngsten Proteste ein beredtes Zeugnis ab.

Die soziale und ökonomische Wirklichkeit ist eine Dekade nach dem Startschuß zum Ausbruch aus der ideologisch bedingten Isolation vanUngleichgewichtengeprägt.Als die Wirtschaftsplaner inPeking sich vom streng marxistischen Dirigismus abwandten \ind marktwirtschaftlich orientierte Enklaven einrichteten, Schilfen sie selbst die Keimzelle zum Kampf um Privilegien \md damit zu sozialen Spannungen. In diesen von der KP-Spitze abgesegneten Freiräimien können sich nicht nur ausländische Investoren, sondern auch gewiefte Chinesen nach kapitalistischen Spielregeln austoben; sei es als kleiner Händler auf einem freien Mai^ oder als geschäftstüchtiger Manager in einer Sonderwirtschaftszone.

Aber nicht immer sind nur die Tüchtigsten nach dem Leistungsprinzip zu Wohlstand gekommen. An dem gelockerten Wirtschaftssystem, das Eigenverantwortlichkeit predigt und damit beschränkte Privatinitiative meint, haben sich vor allem die Funktionäre des kommunistischen Staates und die Direktoren der Staatsbetriebe bereichert Schließlich verdienteinBeamter mit etwa 200 Yuan nur einen Bruchteil dessen, was ein Händler einstecken kann, nämlich bis zu 2000 Yuan. So mandher Funktionär macht diese Differenz wett, indem er zvun "guan-dao". zum "Schieber" wird, und so mancher Untemehmensleiter, indem er die geforderte demokratische Kontrolle zur Eigeimützigkeit uminterpretiert

Das gutgemeinte Selbstverantwortlichkeitssystem treibt oft Blüten, die in der chinesischen Geschichte gar nicht seltsam sind: Korruption, Bestechlichkeit, Vetternwirtschaft Daß dank "guanxi", guten Beziehungen, die Familien der Spitzen von Partei und Staat wohlversorgt sind, pfiffen die "dazibao" von den Wänden. Darin lag Sprengstoff für die Studentenproteste.

China hat durch die Wirtschaftsreform eine überhitzte Konjimktur erlebt und versucht nun, diese Entwicklung zu bremsen. "Die Wirtschaft ist außer Kontrolle geraten", gestehen selbst offizielle Stellen in Peking ein. Die Inflation liegt schätzungsweise zwischen 20 und 30 Prozent. Die Zahl der "Arbeitssuchenden", wie Arbeitslose freundlich umschrieben werden, beträgt etwa fünf Prozent. Das Bruttona-tionalprodukt verzeichnet ein jährliches Wachstum um fast neun Prozent Das Außenhandelsvolumen belief sich 1988 auf gut 80 Milliarden Dollar, bei einem Zuwachs um

18 Prozent gegenüber 1987.

Die Volksrepublik kooperiert weltweit mit 160 Handelspartner, wobei Hongkong, Japan imd die USA die Liste anführen und die Bundesrepublik in Europa an der Spitze hegt. Joint Ventures werden, nicht nur in den strategisch günstig angesiedeltenSonderwirtschaftszo-nen, mittels günstiger Bedingungen angelockt Hochtechnologie sowie umweltschonende imd energiesparende Industrien sind besonders gefragt Als Anreiz werden günstige Steuersätze, leichter Gewinntransfer und billige Arbeitskraft geboten, mit der auch Hongkong nicht mehr konkurrieren kann.

Im Verkehrswesen und in der Energieversorgung verzeichnete Chinia eklatante infrastrukturelle Mängel Außeiiialb der Wirtschaftseldorados, für die es Garantien gibt, bekommen Betriebe die Energieknappheit durch Abschaltungen zu spüren und müssen bisweilen kurzarbeiten. Die Verkehrsmittel, ob Flugzeug oder Bahn, sind hoffnungslos überlastet. Darunter leidet auch der Fremdenverkehr, der eine wachsende Rolle spielt

Das Doppelwährungssystem -"Volksgeld" und "Devisenwährung" - hat Spekulanten und Geschäftemacher auf den Plan gerufen. Die reformfreudige kommunistische Führung mußte für ihre Auslandstransaktionen den Markt der konvertiblen Währung erheblich vergrößern. Daneben hat sich einflorierender Schwarzmarkt entwickelt Mit "Devisengeld" werden unter der Hand begehrte westliche

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