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Christ unter Gorbatschow

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Bis in hohe Parteikreise soll die religiöse Renaissance in der Sowjetunion reichen, berichtet eine in den Westen emigrierte, selbst erst vor kurzem getaufte Dissidentin.

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Bis in hohe Parteikreise soll die religiöse Renaissance in der Sowjetunion reichen, berichtet eine in den Westen emigrierte, selbst erst vor kurzem getaufte Dissidentin.

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Seit Michail Gorbatschow zum Parteichef wurde, lassen sich in der Sowjetunion nicht nur wirtschaftliche Veränderungen, sondern auch Demokratisierung im Gesellschaftsleben beobachten.

In der Gorbatschow-Ära tut man das, was seit der Oktober-Revolution nicht gemacht wurde: man öffnet nämlich die Kirchen. In Moskau wurde zum Beispiel der orthodoxen Kirche das Dani-low-Kloster zurückgegeben und restauriert. Heute ist das ein tätiges Kloster, praktisch im Zentrum von Moskau. Es verbreiten sich auch Gerüchte, daß andere Gotteshäuser in der Hauptstadt, die zur Zeit noch geschlossen und im schlechten Zustand sind, der orthodoxen Kirche zurückgegeben werden. Dies soll ein Beweis dafür sein, daß sich der Staat um gute Beziehungen mit der offiziellen Kirche bemüht.

In der Zeit der ökonomischen Krise ist es für Gorbatschow von

Bedeutung, wie man seine Politik im Westen beurteilt. Andererseits ist die orthodoxe Kirche für den Staat sehr nützlich, weil sie, um existieren zu können, hohe Steuern zahlen muß. Jeder, der in der Kirche tätig ist, ob Priester oder Sänger im Kirchenchor, zahlt fast die Hälfte seines monatlichen Verdienstes dem Staat zurück.

„Der Kreml-Chef ist ein realistischer Politiker, und er weiß, daß man ohne Bündnis mit der Kirche nur sehr schwer etwas im ökonomischen Bereich verändern kann.“ So charakterisiert Gorbatschow die ehemalige stellvertretende Leiterin der Moskauer „Trust group“, Anna Nelidova, die vor kurzem mit ihrer Familie aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde.

Nelidova kommt aus einer atheistischen Familie. Ihre Oma hat sogar bei der Oktober-Revolution mitgemacht. Anna hat als gut erzogenes Kind die Bibel zwar gekannt, aber nur als ein Märchenbuch. Christin wurde sie erst vor drei Jahren. An dieses Ereignis erinnert sie sich so:

„Ich bemerkte, daß die Menschen, die den Glauben haben, stark sind und anders fühlen als die Atheisten. Viele meiner Bekannten hatten das Sakrament der Taufe empfangen. Ich selbst fühlte mich nicht wohl in der Kirche, weil mir das erste Sakrament fehlte. So beschloß ich — und dann mit mir auch mein zehnjähriger Sohn —, mich taufen zu lassen. So wie mir geht es vielen Sowjetbürgern. Oft kamen, wenn ich aus der Kirche heraustrat, auf mich Menschen mit der Frage zu, ob sie zuhören und anschauen können, was sich in der Kirche tut. Sie waren noch nie in einer Kirche gewesen. Denn der kommunistischen Propaganda nach ist die Kirche etwas Böses.“

Anderseits sind viele Gläubige gegenüber der offiziellen Kirche mißtrauisch, weil sie sie in Kreml-Hand wähnen. Sie gehen nicht in die Kirche, sondern versammeln sich in Privatwohnungen und lesen dort gemeinsam religiöse Bücher.

Trotz aller Verfolgungen wächst die Zahl der Gläubigen in der Sowjetunion ständig. Wie Anna Nelidova betont, „ist das ein völlig natürlicher Prozeß“: „Die Menschen können ohne den Glauben nicht leben. Als man ihnen nach der Revolution Gott einfach

weggenommen hat, wurde er durch den politischen Glauben ersetzt. Unsere Eltern haben daran geglaubt, daß man auf der Erde ein Paradies - gemeint war der Kommunismus — bauen kann. Meine Generation dagegen und auch die nächsten, können nicht mehr daran glauben. Deshalb kehren viele Menschen bei uns zur Religion zurück.“

Die Tendenz „Zurück zur Religion“ gilt nicht nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen, sondern ist eine allgemeine Erscheinung in der Sowjetunion. Besonders bemerkenswert ist dieser Prozeß bei hochrangigen Partei-

funktionären. In der sowjetischen Hauptstadt verbreiten sich Gerüchte, daß die sogar eine eigene Kirche haben.

Daß die Parteifunktionäre ihre Kinder zur Taufe bringen, ist aber nicht mehr geheim. In Moskau gibt es nämlich eine Kirche, wo man bei der Taufe die Pässe der Eltern nicht vorzuweisen braucht. Die Angaben werden nicht in ein Buch eingetragen, das normalerweise vom Staat überprüft wird. Die Spende des ersten Sakraments ist dort zwar um das Vierfache teurer als üblich, doch das Kind und seine Eltern bleiben anonym.

Anna Nelidova hat mit eigenen Augen gesehen, wie zwei schwarze „Wolga“-Limousinen mit staatlichen Kennzeichen vor dieser Kirche angehalten haben. „Aus den Wagen stiegen gut gekleidete Frauen mit Kindern aus. Es waren sicher Gattinnen höherer Funktionäre, denn wer sonst konnte solche Autos benutzen? Und offensichtlich hatten ihre Männer nichts dagegen.“ . Solange man die Gläubigen verfolgt, kann Gorbatschow der Welt nicht zeigen, daß die wirkliche Liberalisierung im Gange ist. Dann müßte man aber auch die bis jetzt verbotenen Sekten, die jüngst an Verbreitung gewonnen haben, zulassen. Da aber fast alle Mitglieder dieser Sekten Wehrdienstverweigerer sind, ist das für die Regierung ein weiteres Problem.

Die Regierung wird höchstwahrscheinlich vielen von ihnen die Emigration vorschlagen. So war es wenigstens im Falle von Nelidova. Bei einem Verhör sagte ein KGB-Offizier wortwörtlich zu ihr: „Solche Menschen wie Sie, die etwas verändern wollen, können hier nicht mehr leben. Sie können doch nicht die Wand mit dem Kopf durchbrechen. Wenn Ihnen die Gesetze dieses Landes nicht gefallen, verlassen Sie es und leben dort, wo es Ihnen gefällt.“ Wird das vielleicht ein neuer Trend in der Gorbatschow-Innenpolitik sein?

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