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Christen unter dem Halbmond

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Nach Artikel 39 der türkischen Verfassung dürfen nichtmuslimische Minderheiten nicht diskriminiert werden. Doch die Gleichberechtigung steht nur auf dem Papier. Die christlichen Minderheiten jedenfalls schrumpfen immer mehr, während der Islam wieder an Boden gewinnt.

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Nach Artikel 39 der türkischen Verfassung dürfen nichtmuslimische Minderheiten nicht diskriminiert werden. Doch die Gleichberechtigung steht nur auf dem Papier. Die christlichen Minderheiten jedenfalls schrumpfen immer mehr, während der Islam wieder an Boden gewinnt.

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1923 wurde die Türkische Republik mit Ankara als Hauptstadt proklamiert. Mit einer Analphabetenquote von 90 Prozent, ohne Mittelstand und Industrie begann in der Türkei die Neuzeit. Der erste Präsident der Republik, Mustafa Kemal Pascha, später Atatürk genannt, leitete radikale Reformen ein:

Staat und Religion wurden getrennt, die Derwischorden aufgelöst. Der Gregorianische Kalender, das Frauenstimmrecht, Familiennamen wurden eingeführt. Die Vielehe, das Tragen von Schleier und Fes wurden verboten. Die arabische Schrift wurde durch die lateinische Schrift ersetzt. Ruhetag war in der Türkei fortan der Sonntag.

Der Kemalismus wurde für viele Türken zu einer Ersatzreligion. Atatürks Konterfei ist überall, jeder Türke kann Aussprüche Atatürks zitieren. Politiker, Militärs und Richter berufen sich auf ihn, den „Vater der Türken".

Aber hat die moderne Türkei, in der 98 Prozent der 47 Millionen Einwohner Muslime sind, schon ihre Identität gefunden? Das wird jeder, der sich zwischen Bosporus und dem Berg Ararat umschaut, bezweifeln.

Bei allem Lob für Atatürk kann man immer wieder hören und beobachten, daß die Reformen zu überstürzt kamen, daß sich ein Agrarland nicht ohne weiteres in ein Industrieland verwandeln läßt, daß die verordnete Gewaltkur an dem Unterschied von Stadt und Land, Arm und Reich, Orient und Europa wenig geändert hat, daß eine Rückbesinnung auf islamische Werte, ein Ausschlagen des Pendels nach der anderen Seite eingesetzt hat.

Atatürk hatte den Religionsunterricht in seinem laizistischen Staat abgeschafft. Die Koranschulen wurden geschlossen, religiöse Prediger waren Verfolgungen ausgesetzt. Zwischen 1933 und 1949 gab es in der Türkei keine theologischen Lehranstalten. Heute gibt es wieder theologische Fakultäten an acht türkischen Hochschulen. Seit 1982 ist Religionsunterricht wieder Pflichtfach in den Grundschulen; es wurde mit dem Lehrfach „Moral" zusammengelegt.

Von staatlicher Seite wird argumentiert, die religiöse Unwissenheit habe abergläubische Bräuche und das Sektenwesen gefördert. Durch Religionslosigkeit erhalte der Kommunismus Auftrieb. Der türkische Klerus indes will die Verdienste bewußt machen, die sich die Türken im Laufe der Geschichte um den Islam erworben haben. Der Koran soll unter anderem das Wissen vermitteln, daß der Islam die letzte und vollkommenste Religion ist.

Die christlichen Gemeinden in der Türkei wiederum sind auf kleine, fast unbedeutende Minderheiten zusammengeschrumpft. Ende des vergangenen Jahrhunderts machten sie immerhin noch 30 Prozent der Bevölkerung aus. Zwischen 1890 und 1920 wurden fast zwei Millionen armenische Christen vertrieben oder getötet. Armenische Terroraktionen, vor allem gegen Türken und türkische Institutionen im Ausland, sind bis heute die Antwort.

Die in der Türkei verbliebene armenische Gemeinde von rund 30.000 Menschen ist jetzt in den

Großstädten Istanbul, Izmir und Ankara ansässig; sie teilt sich in gregorianische, katholische und protestantische Christen auf. Die wenigen Gottesdienstbesucher in den armenischen Kirchen Istanbuls vermeiden es, mit Fremden über Repressalien zu sprechen, denen Armenier in der Türkei noch immer ausgesetzt sind.

Neben der Kirche der armenischen Protestanten, umgeben von baufälligen Altstadthäusern, kleinen Läden, von Autohupen, Hundegebell und Kindergeschrei, steht die Kirche der Evangelischen Kirchengemeinde Istanbuls. Die Gottesdienstbesucher sind größtenteils Deutsche; ihr Pfarrer darf nicht im Talar auf die Straße gehen, noch dürfen Kirchenglocken geläutet werden. Türken, die zum Christentum übergetreten sind, gibt es unter den Protestanten ebensowenig wie unter den Katholiken.

Wie sehr das christliche Gemeindeleben eine Angelegenheit von Ausländern ist, zeigt ein Blick in die Basilica di San Antonio. Dort werden Beichten in Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Polnisch und Griechisch, aber nicht in Türkisch abgenommen. Christlicher Religionsunterricht ist nur in den Auslandsschulen gestattet, türkische Schüler dürfen nicht daran teilnehmen.

Die Verbreitung christlicher

Schriften in der Öffentlichkeit, jede Art religiöser Propaganda, jede Missionstätigkeit ist verboten. Christliche Kleriker sprechen von einer Ungleichheit im Hinblick auf religiöse Rechte, die Muslimen in westeuropäischen Ländern gewährt werden.

Diskriminiert, bedrängt und verfolgt fühlen sich vor allem die sogenannten Jakobiten und Chal-däer, syrisch-orthodoxe und syrisch-katholische Christen im Süden Anatoliens. Wiederholt sahen sie sich den Ubergriffen fanati-sierter Muslime ausgesetzt; viele der Drangsalierten suchten Asyl im Ausland.

Es gibt schätzungsweise nur noch 120.000 Christen in der Türkei. Rund 25.000 nichtmuslimische türkische Flüchtlinge und Asylsuchende halten sich in westeuropäischen Ländern auf. Nach der Vertreibung der Griechen aus Anatolien in den zwanziger Jahren und nachfolgenden Repressalien ist die Zahl der Griechisch-Orthodoxen in der Türkei auf etwa 8.000 gesunken.

Die Oberhäupter dieser Minderheiten - Patriarchen, Exarchen, Erzbischöfe und Bischöfe -sind heute in der Türkei ohne Macht und politischen Einfluß.

Derweil steigen Ansehen und Einfluß der Mullahs. In der Hauptstadt Ankara wird mit saudischem Geld eine der größten Moscheen der Welt gebaut. Sie soll 40.000 Menschen fassen und dem europäischen Stadtbild Ankaras islamische Akzente geben.

Der Islam wird wieder mehr das Gesicht der Türkei bestimmen. Die von Atatürk angestrebte Ausrichtung nach Europa ist vor allem im materiellen Bereich spürbar. Aber östlich-islamische Denkweise macht es vielen Türken schwer, fremde Kultur zu assimilieren. Viele von ihnen haben den Mangel zwischenmenschlicher Beziehungen in der westlichen Gesellschaft kennengelernt Um so mehr suchen sie Rückhalt im Islam, der ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit gibt.

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