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Christen zielen immer aufeinander
Eine zehnbahnige Autostraße imponiert dem Besucher, der mit dem Wagen nach Belfast reist. In der Stadt jedoch ist das Fahren alles andere als ein Vergnügen. Ganze Straßenzüge sind mit Eisengittern versperrt, nur durch Drehpfo-rten und nach peinlicher Körperkontrolle kann man eintreten. Die Parkmöglichkeiten sind auf einige strengbewachte Plätze beschränkt. Im Stadtzentrum würde ein Wagen ohne Insassen schnell Verdacht erregen und vom Militär gesprengt werden.
Panzerspähwagen stehen an Straßenecken, Jeeps fahren unversehens zu Razzien vor. Last- und Personenwagen werden durchsucht, Führerscheine geprüft. Soldaten patrouillieren durch die Straßen, wechseln ständig die Richtung, halten Ausschau nach Scharfschützen. Polizei-und Militärunterkünfte sind durch hohe Drahtzäune und Sandsackbarrikaden geschützt. Die Polizisten tragen schußsichere Westen, die Militärstreifen sind mit Sprechfunkgeräten ausgerüstet. Immer wieder wird kontrolliert, einmal durch hemdsärmelige, tätowierte Gefreite, ein andermal durch blonde Polizistinnen, sei es vor Geschäften, Büros, vor Postämtern und Kinos. Zwischen Supermärkten und Wettbüros gähnen die Ruinen früherer Bombenanschläge. In Erwartung weiterer Anschläge sind viele Schaufenster mit Papierstreifen überklebt oder durch Plastikfenster ersetzt.
Im Bomben- und Schießkrieg Nordirlands laufen nicht nur engagierte Protestanten und Katholiken, britische Soldaten und lokale Politiker ständig Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, auch völlig Unbeteiligte, einschließlich Frauen und Kinder, sind Opfer des Terrors geworden. Irgendwo ist immer etwas los. Man sitzt in der Royal Avenue bei Tee oder Bier und erfährt durch den Rundfunk, daß in der North Street, nur einen Katzensprung entfernt, vor einer halben Stunde ein Überfall aus dem Hinterhalt stattgefunden habe. Gestern noch ist man vor dem Walker Memorial in Londonderry gestanden. In der Nacht wurde es, wie die Morgenzeitungen berichten, von der IRA gesprengt. Nicht wenige Anschläge erfolgen ohne Warnung. Ein Spaziergang, eine Überlandfahrt kann in den Tod führen.
Katholiken und Protestanten haben sich in ihren Wohnvierteln voneinander abgekapselt, sie ziehen es vor, in Ghettos zu leben.
Liegt der Keim allen Übels darin, daß 26 Provinzen Irlands seit 1921 zum Irischen Freistaat (Eire) und die 6 Provinzen Ulsters zum Vereinigten Königreich Großbritannien gehören? Die Teilung der Insel kommt dem Ausländer künstlich vor, und mancher neigt zu der Ansicht, eine Wiedervereinigung würde die Probleme lösen. Freilich: in Nordirland ist die Präsenz Englands durch seine Soldaten nicht zu übersehen.
Was aber London in der nordirischen Frage tut oder unterläßt — es löst stets Kontroversen aus. Die Skala der Kritik reicht von dem Vorwurf, das Mutterland kümmere sich zu wenig um Ulster, bis zu der Klage, London mische sich ungebührlich in nordirische Angelegenheiten ein. Die Anwesenheit britischer Truppen wird sowohl als ein Segen wie auch als kolonialistische Unterdrückung, von den meisten jedenfalls mit gemischten Gefühlen angesehen. Dabei ist den Soldaten am wenigsten wohl, zumal ihre Gegner meist britische Staatsangehörige, seltener südirische Insurgenten sind. Armeeangehörige werden auf Patrouillen von ihren Mitbürgern mit heißem Tee versorgt; anderswo finden sie Zündkörper an den Auspuffrohren ihrer Fahrzeuge.
Wären Nord- und Südirland Polizeistaaten, würde den Terroristen das Untertauchen schwerfallen. Bemerkenswert ist, daß sich viele Terrorakte an Wochenenden ereignen. Und immer mehr sind Jugendliche und sogar Kinder an Terroraktionen beteiligt. Die Frage erhebt sich, ob der Terror allein politisch-religiösen Motiven entspringt. Wissen Sechzehnjährige, was sie tun? Die Volkswagen-Werkstatt in Londonderry wurde bereits dreimal von jungendlichen Bombenlegern zerstört, ihr Besitzer mit Pistolen bedroht. Eine andere Autowerkstatt flog neunmal in die Luft.
Londonderry, eine Stadt mit katholischer Mehrheit, hat den „schmutzigen Krieg“ bisher am meisten zu spüren bekommen. Hier starren dem Besucher noch mehr Ruinen entgegen als in Belfast. Auf den Straßen sieht man mehr Soldaten als Zivilisten. Die Familien der britischen Soldaten wohnen in ghettoartigen Außenvierteln. Das Stadtzentrum ist für Autos gesperrt.
Bilder wie in Belfast und Londonderry sieht man auch in der Provinz: Polizeistationen, die wie Käfige aussehen, Betonschwellen an Stadteinfahrten, bereitliegende Stachelketten für flüchtende Autos. Sandgefüllte Tonnen versperren die Hauptstraßen. Der Durchgangsverkehr wird auf Umgehungsstraßen abgeleitet. Die Stadt- und Dorfzentren werden unfreiwillig in Fußgängerzonen verwandelt. Plakate versprechen 50.000 Pfund Belohnung für die Ergreifung von Bombenlegern und Mördern“. Andere Plakate bitten den Bürger, Verständnis für die Kontrollmaßnahmen aufzubringen.
Die Bürger indes äußerten sich vielfach zu der Frage, wie dem Konflikt am besten zu begegnen sei. Man solle die Politiker zügeln und der Armee freie Hand lassen, sagen die einen. Andere machen die Armee für alle Mißhelligkeiten verantwortlich und fordern mehr Entscheidungsgewalt für das Parlament von Ulster. Wieder andere sagen, in Nordirland würde ein offener Bürgerkrieg ausbrechen, wenn die britischen Soldaten das Land verließen. Während die Dubliner Regierung offiziell die Politik einer friedlichen Wiedervereinigung vertritt, greifen radikale Südiren auf eigene Faust in die nordirischen Wirren ein. „Join the IRA — Komm zur IRA“ liest man diesseits und jenseits der Grenze.
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