6804532-1971_51_03.jpg
Digital In Arbeit

Christliche Soziallehre in Liquidation?

19451960198020002020

Fast alles, was bis vor kurzem unwidersprochen zum Bestand des Wahrheits- und Wertkosmos des Christentums gehörte, wird heute, gewiß nur von einer kleinen Minderheit, als liquidationsreif, als überholt angesehen. Wie könnte es anders sein, als daß auch die christliche Soziallehre in diese angebliche Liquidationsmasse einbezogen wird.

19451960198020002020

Fast alles, was bis vor kurzem unwidersprochen zum Bestand des Wahrheits- und Wertkosmos des Christentums gehörte, wird heute, gewiß nur von einer kleinen Minderheit, als liquidationsreif, als überholt angesehen. Wie könnte es anders sein, als daß auch die christliche Soziallehre in diese angebliche Liquidationsmasse einbezogen wird.

Werbung
Werbung
Werbung

Angesichts heutiger Gegnerschaft gegenüber der christlichen Soziallehre mag es angezeigt erscheinen, die Bilanz ihrer bisherigen Arbeit zu ziehen. Diese Bilanz muß von der Situation zur Zeit vor etwa hundert Jahren ausgehen. Damals, auf dem Höhepunkt der ersten industriellen Revolution, sah sich das sich meldende christliche Sozialdenken dem aggressiven Liberalismus und nicht minder aggressiven Sozialismus gegenüber. Im Sinne des ersteren meinte man im österreichischen Raum: „Mit Bibelsprüchen baut man keine Eisenbahnen.“ Im reichsdeutschen Raum hieß es: „Christentum und Sozialismus vertragen sich wie Feuer und Wasser.“ Beide, Liberalismus und Sozialismus, haben umdenken gelernt und sind heute bemüht, zu beweisen, daß wesentliche ihrer Ziele mit der christlichen Soziallehre vereinbar sind. Ich behaupte nicht, daß der christlichen Soziallehre das Hauptverdienst an dieser Konvergenz zufällt. Sie hat jedoch bedeutend mitgeholfen, der Vernunft und ihrer Einsicht in das wahrhafte Interesse der gesellschaftlichen Gruppen, gesehen aus dem Blickwinkel des Allgemeininteresses, des Gemeinwohls, den Weg zu bahnen. Das völlig veränderte Bild der von Liberalismus und Sozialismus ausgehenden Sozialdynamik ergibt jedenfalls eine recht positive Bilanz der hundert Jahre moderner christlicher Soziallehre, die diese zu nicht geringen Hoffnungen für die Zukunft zu berechtigen scheint.

Ihre Aufgaben in der absehbaren Zukunft sind durch eine wahrhaft epochale Wende der Sozialproblematik der Welt bestimmt. Am Anfang der modernen christlichen Soziallehre stand die Arbeiterfrage. Sie ist in den Industriestaaten im wesentlichen gelöst. Allzusehr hält sie allerdings weithin den Blick gebannt, während heute die Imperative des Menschheitsgemeinwohls jeder innerstaatlichen Sozialproblematik, mit ganz wenigen Ausnahmen, einen sekundären Rang zuweisen. Immer stand das Gemeinwohl im Sinne der allseitigen Verwirklichung der Gerechtigkeit im Mittelpunkt der christlichen Soziallehre.

Die Priorität kommt in der heutigen Weltsituation dem gesamtmenschlichen Gemeinwohl zu.

Die Bedeutung des Friedens

Was sind, von diesem Gemeinwohl her gesehen, die nächsten Aufgaben der christlichen Soziallehre als Wissenschaft? Die Antwort kann nur in Schlagworten gegeben werden.

Die erste Aufgabe stellt sich durch die mit der atomaren Aufrüstung einhergehenden Bedrohung der Existenz der Menschheit und ihrer Kultur. Der Friede ist der höchste Gemeinwohlswert. In der heutigen Weltsituation ist der christlichen Soziallehre als Wissenschaft eine Fortbildung der Völkerrechtslehre der großen Spanier des 16. Jahrhunderts abgefordert. Angesichts des tatsächlichen weltpolitischen Kräfteverhältnisses wird sie zunächst realistische Schritte zur Bannung der unmittelbarsten Gefahren erarbeiten müssen, zugleich aber ein überzeugendes Gesamtkonzept für die unbedingte Abwehr des Krieges auf Grund eines sich bildenden völkerrechtlichen Verantwortungsbewußtseins zu bieten haben.

Daran schließt sich die weitere Aufgabe der Friedensforschung. Ihr Ziel ist positiv: die Wege zu einer Friedensordnung zu ermitteln, die gleicherweise durch eine aktiv : gewordene Bewußtseinsbildung auf Weltebene und zweckdienliche internationale Einrichtungen gesichert wäre. Die theologische Fakultät der Wiener Universität besitzt ein eigenes Institut für Friedensforschung und ist jüngst mit einer internationalen Konferenz hervorgetreten, auf der verschiedene Friedensauffassungen konfrontiert wurden, um so Gemeinsamkeiten aufzudecken.

Eine dritte große Aufgabe stellt sich mit den Fragen der Entwicklungshilfe. In ihnen präsentiert sich das Prinzip des gesamtmensehheit- lichen Gemeinwohls in augenfälliger Weise. 60 Prozent der Menschheit müssen mit einem DurchschnittsPro-Kopf-Einkommen von unter 200 Dollar pro Jahr leben, wogegen 10 Prozent ein Durchschnittseinkommen von mehr als 2000 Dollar beziehen. Nach Erklärungen der Internationalen Arbeitskonferenz von 1969 müssen im gegenwärtigen Jahrzehnt 230 Millionen Arbeitsplätze allein für Jugendliche in den Entwicklungsländern geschaffen werden, wozu noch viele Millionen von Arbeitsplätzen für die aus der Landwirtschaft Abwahdernden geschaffen werden müssen. Enorme Beträge sind daher erforderlich. Die christliche Soziallehre wird Wege zu finden haben, um das öffentliche Bewußtsein in den hochentwickelten Ländern für die damit gestellten Aufgaben zu mobilisieren. Das heute zwei Fünftel der Menschheit betragende Weltpotential ist für das christliche Gewissen einfach nicht verantwortbar, muß daher für die christliche Soziallehre Anlaß zu intensiver Arbeit sein.

Bevölkerungsexplosion

Unter dem Aspekt des Menschheitsgemeinwohls bildet ferner die Bevölkerungsexplosion ein höchst dringliches Arbeits- und Forschungsgebiet der christlichen Soziallehre. Realistische wissenschaftliche Prognosen sagen, daß die künstliche Geburtenbeschränkung auf alle Fälle zu spät kommt. Feststeht desgleichen, daß die gigantische Aufgabe nicht mit der Polarisierung der Mei-

Photo: Wasche)

nungen für und wider Humanae vitae zu bewältigen ist. Alle von der Enzyklika offengelassenen Methoden der Familienplanung sind genauestens durchzuarbeiten unter allseitiger Abwehr jeder Verletzung humaner Werte, Schon sind Getreide- und Reissorten entwickelt worden, die, wenn ausgenützt, die voreiligen Katastrophenprognosen vieler Wissenschaftler als unrealistisch erscheinen lassen.

Vielerlei Gerechtigkeitsfragen stellt die Umweltverseuchung, die selbstmörderische Zerstörung der biologischen Voraussetzungen des Lebens im Streben nach immer reicherer Lebenserfüllung mit materiellen Wohlfahrtswerten. Das Wohlfahrtsstreben ohne Maß droht, die Grundlage aller Wohlfahrt zu vernichten. Schon daß Wohlstand und Wirtschaftswachstum zu Höchstwerten geworden sind und in den hochentwickelten Ländern die Innenpolitik beherrschen, ist sittlich nicht zu verantworten. Viel deutlicher wird die christliche Soziallehre zu sprechen, die Gewissen zu wecken und die vielfachen Gerechtigkeitsverpflichtungen im Umweltschutz (Staat, Produzenten, Konsumenten) zu erarbeiten haben.

„Programmierung“ des Menschen?

Die Anthropologie, die Frage nach der Natur des Menschen, steht im Zentrum aller eben erwähnten Arbeits- und Forschungsgebiete der christlichen Soziallehre als Wissenschaft. Diese wird intensivst mit der Anthropologie befaßt sein müssen. Denn die vorherrschende Anthropologie wird für den Humanismus entscheidend sein, der die gesellschaftlichen Lebensordnungen in den nächsten Jahrzehnten formen wird. Für starke Richtungen der Naturwissenschaften ist der Mensch ausschließlich ein höher entwickeltes Tier, so auch für den orthodoxen Marxismus. Die Molekularbiologie weiß sich bald in der Lage, die Erbanlagen des Menschen zu manipulieren und Herrenschichten und Roboterschichten von Menschen zu züchten. Sozialpsychologen wollen Sozialtechniken entwickeln, die eine Steuerung der Gesellschaft nach kollektivistisch vorgefaßten Plänen ermöglicht. Die christliche Soziallehre wird sich sehr angelegentlich um den Menschen umsehen müssen gegenüber den sich anzeigenden Versuchen seiner „wissenschaftlichen“ Programmierung.

Offenbar wird sich die Frage nach der Würde des Menschen immer wieder neu stellen. Ihre theologische

Begründung (Gottesebenbildlichkeit, Berufung zur Gotteskindschaft) sagt der gottentfremdeten Gesellschaft nichts. Natürlich darf sie deshalb nicht vernachlässigt werden. Die christliche Soziallehre wird in der Auseinandersetzung mit wendigen Ideologien durch Beweglichkeit in ihrer Argumentation suchen müssen, sich durchzusetzen im Erweis der Menschenwürde als des einen absoluten Wertes, dessen Anerkennung in der säkularisierten Gesellschaft für alle möglich ist. Sie ist dem Menschen eigen auf Grund seiner Vernunftbegabung, seines Gewissens und seiner ihm zustehenden Freiheit als Erstrecht vor allen nicht klar im Gemeinwohl begründeten gesellschaftlichen Herrschaftsansprüchen.

Die freiheitliche Demokratie wird der christlichen Soziallehre mehr und mehr zu schaffen geben angesichts des Schwundes ihres ethischen Gehaltes und der Schwächung der Rechtsstaatsidee. Dies um so mehr, als heute schon anarchistische Kräfte am Werke sind, dagegen die an die Rechtsstaatlichkeit glaubende Mehrheit sich von einem durch die Wohlstandsverfallenheit getragenen Fatalismus leiten läßt, als würde schon alles von selbst wieder in Ordnung kommen.

Nicht zu vergessen ist die Sozialproblematik der Inflation mit der Weltwährungskrise in ihrem Gefolge. Schwerste Ungerechtigkeiten sind mit der Inflation verbunden. Ursachen der Inflation sind überhöhte Einkommensforderungen, überhöhte Staatsausgaben, der Import der Inflation aus Ländern mit erhöhter Inflation. Die Folge von allem ist die Weltwährungskrise mit der Gefahr einer Weltwirtschaftskrise. Im ganzen: die Inflationsdynamik ist im Grunde gar nicht ein ökonomisches Problem, sondern ein politisches, weil sich die Regierungen unter dem Druck der Sozialmächte sehen, daher, wenn sie im Amt bleiben wollen, inflationistische Wirtschaftspolitik zu treiben sich gezwungen sehen. Wo immer man hinsieht, erweist sich die Inflation als Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsproblem, innerstaatlich und international.

Gerechtigkeit

Der Dialog mit der Welt, ein Hauptanliegen des II. Vatikanischen Konzils, hat bisher kaum begonnen. Es blieb beim innerkirchlichen Dialog. Für die christliche Soziallehre als Wissenschaft scheinen für den Dialog mit der Welt besonders günstige Voraussetzungen zu bestehen. Denn sie hat immer daran festgehalten, daß ihre Leitgedanken hinsichtlich der sittlich-rechtlichen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zwar durch die Glaubenswahrheiten eine feste Sicherung erfahren, daß sie aber keine anderen sind als die, auf die sich die Vernunft des Menschen verwiesen sieht, wenn er sich auf die humanen Werte besinnt als Maßstab aller gesellschaftlichen Lebensordnungen. Im Dialog mit der Welt hat die christliche Gesellschaftslehre auch deshalb voranzugehen, weil sie als Wissenschaft von ihren Grundpositionen her die konkreten Gerechtigkeitsimperative nur erarbeiten kann unter Bedachtnahme auf die von den Human- und Sozialwissenschaften gebotenen Sachkenntnisse. Im Dialog mit der Welt kann sie sich aber auch eines mächtigen Bundesgenossen versichert wissen. Das ist das Interesse, das den Menschen anhält, die bestmöglichen Voraussetzungen für seine Selbstverwirklichung in einem sich in der allseitigen Gerechtigkeit verwirklichenden Gemeinwohl zu suchen: in der je menschlicheren Gesellschaft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung