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Christlicher Glaube im Aufbau Europas

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Die Krise der Religion, das Ringen von Christen in Ost und West um den Aufbau des gemeinsamen Hauses Europa, die Spannungen in der Kirche um Zentralismus und Communio-Ekklesiologie - wenn derzeit Theologen tagen, ist an spannenden Themen kein Mangel.

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Die Krise der Religion, das Ringen von Christen in Ost und West um den Aufbau des gemeinsamen Hauses Europa, die Spannungen in der Kirche um Zentralismus und Communio-Ekklesiologie - wenn derzeit Theologen tagen, ist an spannenden Themen kein Mangel.

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Es ist heute Mode geworden, Wissenschaft und Philosophie für den Rückgang der Religion in der modernen Gesellschaft verantwortlich zu machen. Ehrlicher wäre es, der Religion selbst die Schuld für ihr eigenes Versagen zu geben.

Die Religion geht nicht zurück, weil man sie ablehnt, sondern weil sie irrelevant, langweilig oder tyrannisch geworden ist. Wenn bloßes Lippenbekenntnis an die Stelle des Glaubens tritt, Disziplin echte Verehrung und Liebe ersetzen muß, wenn man die Krise der Gegenwart nicht sehen will wegen der glänzenden Vergangenheit, wenn Glaube zum Erbstück wird statt zur lebendigen Quelle, wenn die Religion nur noch mit der Stimme der Autorität spricht und nicht mehr mit der Stimme des Mitleids - dann ist ihre Botschaft sinnlos geworden.

Dieser Analyse A. J. Heschels widersprechen nicht die sich ausbreitenden Fundamentalisten, die wachsende Zahl der neuen religiösen Bewegungen, Sekten und Gruppen, die Wiederentdeckung der Mythen und anderes mehr, da dies die Lage für die christlichen Kirchen nicht ändert. Die Kirchen wirken ausgelaugt und geistlos und deshalb trifft die Analyse des jüdischen Religionsphilosophen die Kirchen in vollem Umfang.

Am 9. April ging ein eindrucksvoller Kongreß der noch jungen Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie zu Ende. Mehr als 280 Theologen und Theologinnen (Minorität) aus fast allen europäischen Ländern nahmen daran teil. In Vorträgen, Arbeitskreisen und unzähligen Einzelgesprächen suchten sie sich klar zu werden über die Rolle des christlichen Glaubens im Aufbau Europas. Bemerkenswert war, daß nicht die Theologen das große Wort führten, sondern Kulturphilosophen wie Jean Ladriere, Guiseppe Alberigo, Religionssoziologen wie Miklos Tomka, Franz Xaver Kaufmann und Historiker wie Viktor Conzemius und andere.

Der Präsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, Peter Hünermann, wollte mit der Metapher des janusköpfigen Europäers auf die fundamentale Ambivalenz unserer gegenwärtigen Situation in Ost und West hinweisen.

Das Bild des janusköpfigen Europäers paßt in besonderer Weise zur Situation eines Neuanfanges, welche uns allen mit Bezug auf Mittel- und Osteuropa in so geschichtsmächtiger Weise präsent ist und von manchen auch für ein EG-Europa nach 1992 erhofft wird.

Die Diagnosen, so führte der Bielefelder Religionssoziologe F. X. Kaufmann aus, kultureller Kristallisation oder des Übergangs der Moderne in ein Zeitalter der Post-Histoire (Arnold Gehlen), die Vorstellung eines ehernen Gehäuses der Hörigkeit, in das die Dynamik des okzidentalen Rationalismus einmünden müsse (Max Weber), oder auch die postmarxistischen und post-modernen Resignationen des letzten Jahrzehnts, sind durch die geschichtlichen Erschütterungen der letzten drei Jahre wie weggeblasen und haben einem neuen geschichtlichen Bewußtsein Platz gemacht, das die Gegenwart als Schwelle, als weichenstellenden Übergang von einer bekannten Vergangenheit in eine noch unbekannte Zukunft versteht. Die Inkulturation des Christentums im Abendland geht weit über das hinaus, was heute in der Form der Kirchen als Religion präsentiert und anerkannt wird.

Eben dies ermöglicht die heute im Westen verbreitete Haltung einer kirchendistanzierten Christlichkeit, die allerdings ihre Kraft doch aus der Existenz der kirchlich institutionalisierten Form des Christentums zieht. Es gehört zur Tragik des gegenwärtigen Pontifikats, daß Papst und Kurie gleichermaßen zu glauben scheinen, man könne die Glaubengewißheit und Glaubensfreude der Kirche durch eine Ausgrenzung derjenigen wiederherstellen, die die Fragwürdigkeiten der bestehenden Kirchenstruktur und einiger umstrittener Moralforderungen zum Gegenstand innerkirchlicher Erörterungen machen wollen.

Für den soziologischen Beobachter F. X. Kaufmann ist der Autoritätsverlust des kirchlichen Amtes in den letzten Jahren offenkundig, und er fragt sich, inwieweit sich darin nicht sogar eine Krise seiner Legitimität andeutet.

Darf man vermuten, daß sich in diesen Degenerationserscheinungen des päpstlichen Zentralismus das Ende einer Kirchenepoche ankündigt, die mit den kirchlichen Reorganisationen nach der napoleonischen Zerschlagung der feudalen Kirchenstruktur begann, in der Unfehlbarkeitserklärung des Patriarchen des Abendlandes ihren Höhepunkt erlebte und mit der im II. Vatikanischen Konzil sich andeutenden Öffnung der Kirche zur Welt und der daraus hervorgehenden Communio-Ekklesiologie ihre theologische Grundlage verloren hat? Das dem staatlichen Absolutismus nachgebildete Kirchenverständnis vermag heute die Herzen nicht mehr zu ergreifen und kein sichtbares Zeichen des Reiches Gottes mehr zu sein.

Die gegenwärtige Situation stellt die Theologie vor besondere Anforderungen. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationsprozesse von dem Ausmaß, wie sie Europa in den vergangenen Jahren zu bestehen hatte, und in den kommenden Jahren zu bewältigen hat, besitzen ihre tief wurzelnden Voraussetzungen.

Theologie kann diesen Dienst nur leisten, wenn sie sich vorbehaltlos den großen Problemen der Menschheit zuwendet. Eine Theologie der Ewigkeit ist in diesem Sinne immer eine fehlgeleitete, sie muß „zeitlich" und „weltlich" sein.

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