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Cilia oder Der Irrgast. (Kapitel: Der Stall)

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Cilia, Krankenschwester im Wiener AKH, erwartet von einem Arzt ein Kind. Dieser will es abtreiben lassen. Mit Selbstmordgedanken zieht sich Cilia auf die Turracherhöhe zurück und beginnt dort über traumatische Wanderungen mit ihrer Selbstfin-dung. Ihr Weg zum Ja zum eigenen und dem Leben des Kindes ist auch als Befund über den heutigen Menschen zu lesen.

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Cilia, Krankenschwester im Wiener AKH, erwartet von einem Arzt ein Kind. Dieser will es abtreiben lassen. Mit Selbstmordgedanken zieht sich Cilia auf die Turracherhöhe zurück und beginnt dort über traumatische Wanderungen mit ihrer Selbstfin-dung. Ihr Weg zum Ja zum eigenen und dem Leben des Kindes ist auch als Befund über den heutigen Menschen zu lesen.

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Nach vier Wochen sind alle Dinge durchsichtig, entgleiten ihren Namen, nehmen Formen an, in denen sie unzerstörbar sind, wachsen und teilen sich wie Lebendes, alles ist richtig, die Halluzinationen sind in ihre eigenen Gesetze getreten, durchfließen die Seele mit ermüdender Genauigkeit, betäubend vor überwahren Beziehungen. Cilia hungert, in Gesichter zu schauen, Stimmen zu hören, die noch in Worten beheimatet sind, Hände zu berühren, die noch verwandt sind mit den Dingen, die sie fassen. Cilia spürt, wie es ihren Augen eingebrannt ist, daß sie tagelang Sichtbares und Unsichtbares nicht mehr unterscheiden. Durchsichtig und namenlos ist alle Umgebung. Cilia strebt unsicher zu den Menschen hinunter, um Grüße zu tauschen, sei es nur ein schwaches Kopfnicken der schwerfüßig Vorüberstapfenden. Geht zu den Häusern, Menschenhäusern mit Türen in Menschengröße, mit Fenstern, Stufen, Wegen, Vorgärten, Zäunen, Türklinken, Ziegeln, Schindeln, Holzböden, Steinböden und Menschenschritten, Rauchsäulen, warmen Rauchsäulen. Zweifel unterwäscht und zerfriert sonst den Lebensort ihres Kindes!

Jeder frostzerspante Stein, der die Spuren ordnender Menschenhände trägt, treibt Dankgefühl um ihre verwundete Stirn. Doch niemandes heile Augen kreuzen ihren schrecklichen Blick, niemandes begütigende Antworten umhüllen ihr unbestehbares Wissen. Sie irrt zwischen vereinzelten Gehöften abwärts, wendet sich vor einer Lärchengruppe vom dunklen Pfad zur freien Alm hinüber, kommt lautlos vor die Steinmauer eines Stalls. Im langsamen Umschreiten hört sie von innen das Schnaufen und Kauen der Rinder, stößt an eine angelehnte Hintertür, aus der warmer Dunst über sie schlägt, fast einladend, seit Kindertagen vertraut. Zögernd, dann aber rasch schlüpft sie durch die Öffnung. Der süße Dampf des Herdenstalls fährt über ihre Sinne, läßt sie vorwärtstaumeln in den Halbschatten, der erfüllt ist von schwerfällig bewegten, stampfenden und dampfenden Kuhleibern. Jauche, staubige Spinnennetze, lang nicht gekalkte Stallwände, eine trübe

Lampe. Die riesigen Tiere wenden langsam die Köpfe, fahren mit mächtigen Pupillen über ihre fremde Gestalt. Sie irrt von Krippe zu Krippe, die heißen Mäuler der Kühe recken sich nach ihr, kreidegeschriebene Namen leuchten aus den Standbohlen: Raga, Salvi, Vevi, Blüml. Halsketten klirren, Bretter dröhnen. Aus den großen Kuhwangen bläst das hohle Aufrülpsen heißen Magenbreis. Dumpfes Muhen füllt die Stille, die geschnitten wird vom Aufzischen kräftiger Strahlen und Niederklatschen spritzender Darmfülle. Aber keine Unruhe befällt die Tiere trotz des Umhertappens der Fremden. Spinnwebe und Heu hängen an ihr. Cilia betrachtet das gute Gesicht der Mora, sie greift es an, streicht über die Nase, fühlt ihre Hand von starker Zunge ins Maul gezogen, es saugt und drängt und stößt in tierischer Gier das Salz von ihren Fingern. Sie krault mit der Linken die wächserne Stirnkrause der Kuh, sie tastet die harten Schläfen, fühlt erstaunt die Hitze in den Hörnern, lehnt ihre eigene Stirn an den harten Knochenwulst über dem langsamen, weiß bewimperten Auge, läßt den Arm mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf den derben Hals der Kuh fallen. Zu den Hufen gesunken, ins schmutzige Streu gekauert, den Kopf in das fettige Fell der Kuh gestemmt, an den Lenden, vor dem breit hängenden Euter der Kuh schluchzt sie lautlos in die erbarmungsvolle Dämmerung dieses fremden Stalls.

Voll Sehnsucht nach greifbarem Unterpfand ihrer Herkunft, Vergangenheit, nach ihren einst so verläßlichen Lieben, keucht sie nach Hause. Cilia öffnet die halbhoch in die Holzwand ragende spitzwinklige Tür, klettert über die schmale, steile Stiege zum Dachboden hinauf. Dort weiß sie zwischen den schrägen Balken in den Nischen, wo früher Krankenliegen standen, jetzt noch Truhen voll Handschriften, Büchern von sich selbst, Eltern, Tante Stephanie, Onkel Gottlieb. Licht fällt von den beiden Giebelecken her durch das Dachstuhlge-winkel über die Gerätschaften. Im Gebälk hängen Körbe, Windlichter, Gehstöcke, kettenverspannte Schuheisen gegen Glatteis, Kuchenformen, gußeiserne Riesenpfannen, die weiße Versehfahne an langer Stange. Seit der Krankenhüttenzeit stehen hier immer noch zwei Krücken, ein Leibstuhl. Seit Cilias Kindheit der Säuglingswickeltisch, die Gehschule, eine Rodel. Cilia räumt die Gläser voll braunem Honig und Sirupsäften von den Truhen. Sie sucht die Zeugnisse ihrer Vorfahren. An quer durch den Raum gespannten Schnüren hängen noch Tante Fannys uralte verdorrte Kräuter. Denn noch im vorigen Jahrhundert gab es kaum Arzneien und Behandlungen, weiß Cilia.

Die Elenden jener fernen Leidenstage in dieser dumpfen rauchigen

Keusche stehen vor ihren Augen, stöhnen unter hilflosen Händen: heiße Tücher, heiße Steine, heiße Hölzer, heiße Breie; Wärmeflaschen aus Blech, aus Glas, aus Schweinsblasen; Brennessel, Almheu, Tannensirup, Honig, Wein, Eibisch, Öl, Senf, Salbei, Holunder, Lindenblüten, Schmalz, Kamille, Latschensuppe, Habichtskraut, Bergahorn, Lärche, Enzian, Kümmel, Balsampappel, Schneeheide, Winterkresse. Und nie Mangel an Eisstücken und Gletscherwasser. Und Gurten, Stricke, Krük-ken, einfachstes Heilgerät: Schüssel, Wanne, Pinzette, Schere, Spatel, Sonde, Ohrlöffel, Klistierspritze. Für die Seele Rosenkränze in drei Größen, ein Wendekopf: vorn Antlitz Christi, hinten Totenschädel. Ein Schutzmantelmadonnenbild: Maria bringt Christus ihre Fürbitten dar und zeigt ihm ihre Brüste.

Cilia hat das vergeblich mit Massen von Muttermilch behan--delte persische Giftgasopfer die letzten Stunden betreut, seinen geflüsterten, ihr unverständlichen Erzählungen teilnahmsvoll gelauscht. Cilia kann nicht verdrängen, daß sie im Dienst an hochversorgten Sterbebetten vordem Abruf heftiger Wiederbelebungsanstrengungen immer wieder die Versuchung bestehen mußte, diesem armen Menschen doch seine Erlösung zu lassen. Wenn er wieder zu Bewußtsein kommt, beginnen Sorgen und Qualen von neuem. Und sie mußte dienstlich zu Eingriffen, ja Organverpflanzungen raten, von denen die Hälfte tödlich verläuft.

Und was alles ihr die Todkranken anvertraut haben: Der Geschäftsmann mit Hirnkrebs, dessen Frau mit zwei Söhnen ihn täglich besuchte, unterhielt in Südamerika eine zweite Familie, Frau mit Tochter samt der ganzen dortigen Verwandtschaft. Das verwirrte männliche Selbstverbrennungsopfer hat im Park Benzin und Feuerzeug gegen sich verwendet, weil es die Rohfassung seines Romans verloren hatte. Ein anderes männliches Selbstverbrennungsopfer, das nach langen Monaten verwirrten Auftretens in der Pfarre den Vorplatz der kubistischen Wiener Wotrubakirche am Neujahrstag als Tatort gewählt hatte. Der unterleibskranke Greis, der auf Schiffsreisen als schweigender Einzelgänger sein Geld vor dem Tod verbrauchen wollte, beichtete Cilia den lebenslangen Ekel vor dem geschenkten Anzug, den er einst als armes Kind erhalten hatte - die Hose vorn urinzersetzt. Ein Großvater dagegen, dem sein Überleben zu lang dauerte, der in die Allgemeinklasse verlegt werden wollte, um nicht seinen Enkeln noch mehr Spitalkosten zu verursachen.

Warum hockt sie jetzt hier? Verkrochen, verstiegen im entferntesten Versteck dieser Welt, ihres Hauses. Die endlose Reihe von Kranken, die stündlich Neuaufzunehmenden, deren Augen stets ratsuchend, hilfeheischend auf sie gerichtet waren, dieser Leidensstrom ist auch jetzt nicht abgerissen. Aber Schwester Cilia gibt es dort nicht mehr.

In den riesigen russischen Abtreibungsanstalten gibt es keine Betäubungsmittel und herrscht ein grauenvoller Umgangston mit den verschreckten Frauenmassen.

Viele hunderttausend indische, pakistanische, nepalesische Sechsjährige, Achtjährige, Zehnjährige arbeiten in vor Schmutz starrenden Schuppen völlig heruntergekommen als Teppichweber. Mit Eisenstangen mißhandelt, wenn sie um Essen betteln. Erscheint Polizei, flüchten sie auf die Bäume oder in die Sümpfe aus Angst, totgeschlagen zu werden.

Eine z weiunddreißigj ährige Lon-donerin hat in diesem Winter ihre elfjährige Tochter in der einsamen Wohnung zurückgelassen, um vier Wochen Urlaub in Spanien zu verbringen...

Und über Weihnachten hat ein amerikanisches Elternpaar seine vier und neun Jahre alten Töchter für eine mehrtägige Mexikoreise allein gelassen...

Eine Million amerikanische Babies wird jährlich drogensüchtig geboren.

Die an Magenkrebs sterbende Greisin zeigte Cilia alle Fotos ihres heute zweiundvierzigjährigen geistig behinderten Sohns. Durch Sauerstoffmangel bei der Geburt verblödet, wurde er seither von ihr liebevoll gepflegt. Mit vier, sieben, elf Jahren noch ein süßes Kind, jetzt hager, eingefallene Wangen, geistlos vor sich hinstierend. Was soll nun aus ihm werden? Diese unglückliche Mutter war bis zuletzt nicht zu trösten.

Und wie ein älterer Vater, der erstmals einer Geburt beiwohnte, vor seinem nackten winzigen Söhnchen die Nabelschnurversorgung laut schluchzend verfolgte bei der Vorstellung, was das Unschuldige auf dieser unseligen Welt erwartet.

Cilia kann verstehen, daß es Eltern gibt, die sich und ihr heranwachsendes Kind immer mehr zurückziehen und verstecken, um ihr Allerliebstes, Allerteuerstes der unsäglichen Schlechtigkeit nicht auszusetzen.

Vorabdruck eines Kapitels aus dem im Sommer erscheinenden Roman: CILIA ODER DER IRRGAST. Von Matthias Mander. Styria Verlag, Graa/Wien/Köln 1993. Ca. 320 Seiten, ca. ÖS450,-.

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