6987765-1986_33_04.jpg
Digital In Arbeit

Cocktail aus Marx & Grün

19451960198020002020

Mit dem Bad Godesberger Parteiprogramm von 1959 vollzog die SPD die Abkehr vom Marxismus. Nun liegt der Entwurf für ein 'neues Grundsatzprogramm vor.

19451960198020002020

Mit dem Bad Godesberger Parteiprogramm von 1959 vollzog die SPD die Abkehr vom Marxismus. Nun liegt der Entwurf für ein 'neues Grundsatzprogramm vor.

Werbung
Werbung
Werbung

Als 1959 die deutsche Sozialdemokratie in Bad Godesberg sich vom doktrinären Marxismus lossagte und im wirtschaftlichen Bereich (wohl notgedrungen) auch die sozialen Erfolge der Marktwirtschaft anerkannte, öffnete sie sich damit zur Mitte hin.

Die SPD, die bis in die sechziger Jahre hinein bei Bundestagswahlen nie die 40-Prozent-Marke übersprang, konnte dadurch neue Wählergruppen gewinnen, die sie auf Bundesebene zur Regierungsfähigkeit brachten: 1966 als Juniorpartner einer Großen Koalition mit den christdemokratischen Unionsparteien und ab 1969 als erste Regierungspartei in der sozialliberalen Koalition.

Als die SPD-FDP-Koalition 1982 in die Brüche ging, entstand in der SPD bald der Wunsch nach neuen programmatischen Uber-legungen. Im Mai 1984 faßte daher der Bundesparteitag in Essen den Beschluß, eine Kommission einzurichten, die auf der Grundlage des Godesberger Programmes ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten soll.

Der Parteivorsitzende Willy Brandt wurde zum Vorsitzenden der Programmkommission gewählt, Mitglieder waren unter anderen Erhard Eppler, Holger Börner, Horst Ehmke. Als Berater in einzelnen Bereichen wirkten Egon Bahr, Peter Glotz, Anke Fuchs, Volker Hauff und Günter Verheugen (früher FDP-Generalsekretär) mit.

Diese Kommission nahm bald ihre Arbeit auf und erstellte in knapp zwei Jahren einen Entwurf, der auf der letzten Kommissionstagung im Mai in Irsee (Allgäu) beschlossen wurde. Auf dem Ende August 1986 in Nürnberg tagenden Parteitag wird es einen Zwischenbericht und eine Diskussion geben.

Eine solche Diskussion soll es nach dem Willen der Parteiführung danach auch auf allen Ebenen und Gliederungen der Partei geben (und damit den Bundestagswahlkampf 1987 beleben). Eine endgültige Beschlußfassung ist erst für einen Parteitag im Jahr 1988 vorgesehen.

Welche Tendenzen lassen sich auch im Vergleich mit dem Godesberger Programm erkennen? Der erste augenfällige Vergleich ist der Umfang: Der neue Entwurf ist rund fünfmal länger als das Godesberger Programm. Das liegt nicht nur an manchmal weitschweifigen Ausführungen, sondern auch an der größeren Zahl von Themenbereichen, die programmäßig erfaßt wurden.

Unschwer kann man auch am Text erkennen, daß seit Godesberg 27 Jahre verstrichen sind, in denen für den Programmentwurf zwei markante Ereignisse stattgefunden haben: die Studentenbewegung des Jahres 1968 mit der damit verbundenen Renaissance des Neomarxismus und das Auftreten der „neuen sozialen Bewegungen“ (Ökologie-, Friedensund Frauenbewegung) Ende der siebziger Jahre.

Vertreter der 68er Generation, die dem Aufruf des Parteivorsitzenden Willy Brandt zur Mitarbeit in der SPD („Marsch durch die Institutionen“) gefolgt sind, sowie klare Sympathisanten dieser neuen Bewegung (etwa der stellvertretende Vorsitzende der Programmkommission Erhard Eppler) bildeten eine deutliche Mehrheit in der Kommission.

Breiter Raum wird der historischen Präambel („Woher wir kommen, wohin wir wollen“) gewidmet, in der sich die Sozialdemokratie als Erbin der bürgerlich-demokratischen Revolution (1948) auffaßt.

Wie in Godesberg, so wird auch im neuen Entwurf festgehalten, daß der Sozialismus in Europa seine geistigen Wurzeln in humanistischer Philosophie, im Christentum, in der Marx'-schen Gesellschaftslehre und in den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat, im Godesberger Programm fehlte in der Aufzählung noch der Name Marx. Insoferne wird damit auch markiert, daß man offenbar nun mehr auf die marxistische Tradition hält.

Nach wie vor geht die Sozialdemokratie, und das ist wohl das entscheidende, von einem idealistischen Menschenbild aus, das im Gegensatz zum christlichen steht, welches von der Erbsündig-keit - und damit Gefallenheit -des Menschen ausgeht. Dies hat natürlich Konsequenzen bei der im Entwurf stark betonten Gleichheitsforderung.

Damit hängt auch eng die im Gegensatz zu Godesberg neu aufgenommene Forderung nach Demokratisierung aller Lebensbereiche zusammen, eine Forderung, die im Zuge der 68er Bewegung aufgekommen ist („Das Private ist das Politische“). Schon aus diesem Grunde ist es klar, daß der Entwurf fünfmal so umfangreich werden mußte wie das Godesberger Programm, als Folge der Vermehrung der programmatischen Reglementierungen.

Umwelt- und Friedenspolitik, aber auch die Forderung nach Gleichheit von Mann und Frau in einer „geschwisterlichen Gesellschaft“ machen umfangmäßig wesentliche Teile des Programmes aus. Sicherlich mit Absicht, denn dadurch sollen die an die Grünen verlorenen Wählergruppen wiederum gewonnen werden.

Auffallende Punkte sind die im Prinzip vollzogene Abkehr von der friedlichen Nutzung der Atomenergie, die Kritik an der politischen Maxime „Abschreckung durch Rüstung“ (damit verbunden auch eine verbale Kritik an den USA), eine nur mehr oberflächlich gehaltene Formulierung der Forderung nach Wiedervereinigung Deutschlands, jedoch eine Absage an eine militärische Neutralität Deutschlands.

In der Europapolitik wird ausschließlich der Wert der Europäischen Gemeinschaft (EG) betont, das übrige freie Europa — zusammen organisiert mit der EG im Europarat — wird nicht erwähnt. Der Solidarität mit der Dritten Welt wird ebenfalls im Unterschied zum Godesberger Programm große Bedeutung zugemessen.

Die Aussagen zu Kirche und Christentum haben im Programmentwurf eine andere Akzentuierung gefunden. Während man im Godesberger Programm versuchte, den marxistischen Antiklerikalismus und den Sozialismus als Religionsersatz abzustreifen sowie vor parteipolitischem Mißbrauch der Verkündigung nach den Erfahrungen des Politischen Katholizismus zu warnen, betont der Programmentwurf andere Gesichtspunkte.

Einerseits wird die Mitwirkung der Sozialdemokratie in den Kirchen postuliert, andererseits wird die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Kirchen bei Übereinstimmungen hervorgehoben. Hier ist unschwer die Handschrift des Protestanten Erhard Eppler wiederzuerkennen, der selber Funktionär der Evangelischen Kirche Deutschlands war (Kirchentagspräsident).

Sicherlich blieb es der Sozialdemokratie nicht verborgen, daß auch in beiden Kirchen, vor allem bei den Protestanten, bei der jüngeren Geistlichkeit und den kirchlichen Jugendorganisationen sozialdemokratische Auffassungen vertreten werden, die sich auch in der gottesdienstlichen Verkündigung niederschlagen.

Daß sich dies die SPD irgendwie zunutze machen möchte, ist parteistrategisch durchaus verständlich, steht aber in Widerspruch zur Ablehnung des Mißbrauchs der Verkündigung für parteipolitische Zwecke, wie sie 1959 in Godesberg gefordert wurde. Man wird auf jeden Fall die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet verfolgen müssen.

Die Betonung der Gleichheit von Frau und Mann bringt es mit sich, daß die Familie und deren Schutz im Unterschied zu Godesberg eher an den Rand gedrängt wurden.

In der Wirtschaftspolitik wird zwar unter peinlicher Vermeidung des Begriffes „soziale Marktwirtschaft“ der Markt als allgemeines Regulativ anerkannt, jedoch auf die Planungskompetenz des Staates hingewiesen. Daß mehr betriebliche Mitbestimmung gefordert wird, überrascht nicht, neu ist die Forderung nach überbetrieblichen Beteiligungsfonds (wie in Schweden) und nach einem 6-Stunden-Tag - damit der 30-Stunden- Woche -, der noch in diesem Jahrhundert verwirklicht werden soll.

In der Bildungspolitik ist die Forderung nach der Gesamtschule nach wie vor im Programm. Daß dies keine Leerformel ist, beweisen die jüngsten Auseinandersetzungen um die Einführung der Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen.

Insgesamt ist der Entwurf des Grundsatzprogrammes „linker“ als das Godesberger Programm, wenn man damit die Wiedernennung der Marxschen Gesellschaftslehre sowie die Übernahme neomarxistischer Forderungen aus dem Jahre 1968 meint.

Damit scheint sich die Analyse des deutschen Politikwissenschaftlers Werner Kaltefleiter (Kiel) aus dem Jahre 1982 teilweise zu bestätigen: Nach seiner Meinung rückt die SPD von der Mitte weg nach links; sie kann dadurch zwar Wähler am linken Rand (Grüne) gewinnen, wird aber in der Mitte verlieren. Nach der Uberwindung dieses Prozesses wird die SPD wiederum zur Mitte, zu einem neuen „Godesberg“, finden und dadurch neuerlich regierungsfähig werden.

Der erste Teil dieser Analyse Kaltefleiters ist eingetreten, die Einlösung des zweiten Teiles wird sich bei der nächsten Bundestagswahl im Jänner 1987 erweisen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung