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Da bleibt noch viel zum Träumen

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Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, da man auf nächtlichen Exkursionen zu Dissidentenwohnungen angeblich große Dinge erfahren konnte. Einen Monat „Round-table-Gespräche“ in Warschau — und schon gibt’s ernstzunehmende Resultate.

Nein, der „alte Lech“ ließ sich am Verhandlungstisch nicht als ein polnischer Chamberlain von den gottlosen Kommunisten einwickeln und das Rückgrat verbiegen. Der Elektriker von der Dan- ziger Leninwerft mauserte sich zum begabten Politiker.

Wenn Walesa in Breslau, Lodz oder Kattowitz vor Tausende arg-

wöhnische Arbeiter trat, um für einen „Gesellschaftsvertrag“ mit der verhaßten Regierung zu werben, wenn er vor neuen Streiks und Konfrontationen warnte, sprach er mit Vernunft und Augenmaß. Die Gegenseite lohnte es ihm. Endlich.

Vergangenen Freitag taute das Packeis auf. Die Schollen zwischen Hardlinern und Reformern driften nun innerhalb der polnischen KP für jedermann sichtbar weit auseinander. Die alten, einst ungleichen Akteure Wojciech Jaruzelski, Mieczyslaw Rakowski und Lech Walesa kommen einander näher.

Die „Rundtisch“-Ubereinkunft kann sich sehen lassen — und wann konnte man das von Verhandlungen in der polnischen Nachkriegsgeschichte schon behaupten? Am 4. und 18. Juni sollen halbfreie Wahlen stattfinden, die der uneingeschränkten Herrschaft der KP ein Ende bereiten werden.

Zwei Parlamentskammern sollen bis dahin in Windeseile nach französischem Vorbild und nicht mehr nach dem bolschewistischen Zwangsmodell eingerichtet werden. Zusätzlich zum Sejm, dem „Unterhaus“, ein „Senat“, für den vollkommen frei gewählt wird.

Anders als beim Sejm, in dem 60 Prozent der 460 Parlamentsmandate durch eine kommunistische Einheitsliste vorausbestimmt werden, fünf Prozent der Sitze ebenfalls undemokratischen katholischen Laiengruppen reserviert bleiben und nur ein Drittel der Mandatsträger nach westlichem Demokratieverständnis ins

Abgeordnetenhaus einzieht, wird für die zweite Kammer keinerlei Sonderklausel eingebaut.

Jeder volljährige Bürger, der 5.000 Unterschriften vorweisen kann, kann Kandidat für einen Parlamentssessel werden. Selbst wenn er beispielsweise der ,Rechtsaußen“ angesiedelten Opposition der „Konföderation unabhängiges Polen“ angehören sollte, die von den Gesprächen am runden Tisch nach wie vor ausgeschlossen ist, entscheidet im „Senat“ nur noch die Stimmenanzahl. Wer als Kandidat am besten abschneidet, der wird Volksvertreter.

Die polnische Bevölkerung wird in naher Zukunft zumindest in einer Kammer „ihre“ Vertreter wiederfinden. Und - obwohl noch nicht alle Details ausgearbeitet sind - diese Kammer wird auch großen Einfluß auf den Sejm haben. Friede, Freude, Freiheit? Nicht ganz.

Die schroffe Trennung - hier

„die da oben“, die Nomenklatura, und da die Michniks, Kurons und Walesas - wird wegfallen, endlich, wie in Ungarn und mittlerweile gar in der Sowjetunion, der Vergangenheit angehören.

Ein General Jaruzelski wird nicht mehr sagen können: „Uns wird die Hand nicht zittern, wenn der Sozialismus in Gefahr ist.“ Er und seinesgleichen werden auf Demagogie zu verzichten haben wie andererseits in der nach wie vor illegalen, bald aber legalen Samisdatpresse der Opposition die parolenhafte Sprache durch rationale Analysen ersetzt werden muß.

Die am runden Tisch erzielte Einsicht wurde aber nicht aufgrund geistiger Werte geschaffen, sondern allein durch die Aussichtslosigkeit der polnischen Wirtschaft. Polen ist mit 39 Milliarden Dollar höchst verschuldet. 63.000 Zloty bringt ein Arbeiter im Durchschnitt monatlich nach Hause, was auf dem Schwarzmarkt satten 15 Dollar entspricht.

Wie bei einer solchen Lohnstruktur eine von Ftegierung wie Opposition angestrebte Leistungsgesellschaft mit Wettbewerb und freiem Markt funktionieren soll, können nicht einmal die Träumer unter den Reformern sagen. Und am runden Tisch hat man sich darüber bisher ausgeschwiegen.

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