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Dach des Hauses?

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Was kommt zuerst, Europa oder Deutschland? Diese Frage bewegt die Deut- schen in Ost und West. Jetzt, da ein Nationalgefühl hoch- kommt, reagieren Politiker eher mit Zurückhaltung.

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Was kommt zuerst, Europa oder Deutschland? Diese Frage bewegt die Deut- schen in Ost und West. Jetzt, da ein Nationalgefühl hoch- kommt, reagieren Politiker eher mit Zurückhaltung.

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Das Volk steht an erster Stelle. „Zum Volk" will in diesen Tagen in der DDR jeder gehören. Bei jeder Demonstration, ob in Karl-Marx- Stadt, das in Bälde wieder in Chem- nitz umgetauft wird, ob in Leipzig, der „Heldenstadt", jeder der etwas zu sagen glaubt, erklärt stolz, er sei „mit dem Volk". Ein SED-Funk- tionär ebenso wie die politisch aufgewachte Hausfrau.

Wie sollte es auch anders sein? Die Annahme, alle Völker seien nationalistisch, nur die Deutschen, diese einstigen Hitler-Anbeter sei- en durch die verlorenen Weltkriege zu Europäern gewachsen -.war eine geschichtsfremde Torheit. Zu allen Zeiten begannen Umbrüche mit einem Freudenschrei nationaler Erregtheit, so auch in Leipzig. Was man vierzig Jahre hintanhalten mußte, scheint zu explodieren. Die Bilder nationaler Euphorie, als Kanzler Helmut Kohl im (noch) anderen deutschen Staat weilte, sprechen für sich.

Zum großen Christfest dann färb- ten sich die Bundesrepublikaner zu Deutsch-Republikanern. Pardon! Nicht alle, aber doch mehr als man wahrhaben möchte, verstecken hinter der neu-deutschen Worthül- se „Konföderationzweierdeutscher Staaten" nicht mehr ihre Gefühle, daß sie sich etwas Vergangenes herbeisehnen. Die Grenzen „Deutschlands"?

Ein gutes Gedächtnis genügt, um vor dem Fragezeichen zu erschrek- ken. Denn so sehr man Bundesprä- sident Richard von Weizsäcker in der Vergangenheit als moderate Persönlichkeit schätzen gelernt hat, spricht er nun nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er nicht ausspricht, mehr als Deutscher denn als Europäer.

Im ersten Interview, das ein Bun- despräsident je „allen Deutschen gab" (so Originalton DDR-Fernse- hen), erklärte der Staatschef: „Wir haben den Deutschen in der DDR mit großer Achtung zu begegnen - wir haben unsere Freiheit ge- schenkt bekommen." Und so schnell entsteht ein deutscher Riese in Mitteleuropa: „Wir sind eine Na- tion und was zusammengehört, wird zusammenwachsen. Aber es muß zusammenwachsen und es darf* nicht der Versuch gemacht werden, daß es zusammenwuchert."

Weizsäcker nähert sich, wenn- gleich er diese Absicht nicht hegte, Kohls Wahlkampfstrategie für 1990: Nicht als „Verzichtpolitiker" gegenüber den als rechts bis rechts- außen geltenden Wählerkreisen dazustehen, die sich das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen Frankfurt-Oder und -Main zunut- ze machen wünschen in ihrem Schlagwort „Anschluß (!) durch Armut".Man muß nicht Pole sein und nicht Jude, um sich zu fragen, warum der Bonner „Zehn-Punkte- Plan zur Einheit" auch nicht mit einem Wort die Grenzen des anvi- sierten Deutschlands erwähnt. Man vergewissere sich, weder im Elysee noch im State Department oder im Kreml will man den Deutschen das Recht auf Volkseinheit beschnei- den (siehe FURCHE 49/1989).

Doch es wird zweideutig, wenn mit Schweigen übergangen wird, was eindeutig dazu gehört - das Verhältnis zu den Nachbarn, den „europäischen Freunden" (Kohl). Weshalb erinnert sich selbst Gen- scher nicht an seine Erklärung vom 27. September 1989 vor den Verein- ten Nationen, in der er den Polen das Recht auf sichere Grenzen zu- sprach, „das von uns Deutschen auch in Zukunft nicht in Frage gestellt wird"?

Das beunruhigt, auch wenn ein- flußreiche Politiker in Bonn und Berlin immer öfter beschwichtigen, in einem Hauruck-Verfahren ließe sich keine neue Ordnung aufbauen, Augenmaß sei vonnöten. So unbe- rechenbar, wie sich die Politik in der jüngsten Zeit erwiesen hat, so wenig hilft es, wenn sich die Me- dien und Politiker aller Schattie- rungen prompt in den Wiederverei- nigungswahlkampf einmischen, um nicht, wie in der deutschen Ge- schichte des öfteren, als vaterlands- lose Gesellen dazustehen.

Als zu Weihnachten das Bran- denburger Tor aufging, die Politik- prominenz diesseits wie jenseits des Nationalsymbols sich die Hände schüttelte, warnte DDR-Chef Hans Modrow, das Tempo des Aufeinan- derzugehens sei so rasant, daß sich Erwartungen für die nahe Zukunft ins Unrealistische steigerten.

Der Bonner Hüne Kohl gab sich nicht weniger „zurückhaltend": Wenn es zur Wiedervereinigung komme, dann nur geregelt unter einem europäischen Dach. Trotz der schönen Worte bleibt Demagogie an einer wunden europäischen Frage: Denn wie kann der Bau des „europäischen Hauses" mit einem Dach beginnen, erst die Deutschen, dann die anderen?

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