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Dämon aus der Flasche

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Seit 1919 steht die ungarische Geschichte in einem engen Zusammenhang mit der Trianon- Problematik, die die Gesell- schaft immer tief spaltete. Nach dem Ersten Weltkrieg war das ungarische Volk fast ohne Ausnah- me einig darin, die verlorenen Ge- biete Ungarns zurückzuerwerben, damit es wieder eine führende Rol- le in Mittel-Europa spielen kann.

Dieses von den Politikern vor- angestellte Ziel, das man mit der zeitgenössischen Losung „Verstüm- meltes Ungarn ist kein Land, gan- zes Ungarn ist Traumland" cha- rakterisieren kann, führte dann zur Wiener Entscheidung, dergemäß einige Gebiete, größtenteils mit ungarischer Mehrheit, ans Mutter- land als Judaslohn von Hitler wie- der angegliedert wurden. Nach Wie- derherstellung der eigentlichen Trianon-Grenze 1945 und beson- ders nach der kommunistischen Machtübernahme 1947 veränderte sich die Situation gänzlich.

In den Augen der Kommunisten, die die Ideologie der internationalen Arbeiterbewegung totalitarisierten, war jeder ein „Agent der USA", ein „Revisionist" oder ein „Nazi", der über Trianon oder über die nationalen Minderheiten sprach. Unter solchen Bedingungen ver- stärkte sich in den siebziger Jahren in Kreisen der ungarischen Intelligenz die Meinung, daß die Beschäftigung mit den nationalen Minderheiten in den Nachbarlän- dern und das Aufgreifen der Tria- non-Frage eine bestimmte Art des Widerstandes gegen das kom- munistische Regime sei. Diese Ansicht konnte mit der Unter- stützung prominenter Schrift- steller, wie etwa Gyula Illyes, rech- nen.

Auf dieser Grundlage begann in den achtziger Jahren in der un- garischen Gesellschaft die Dis- kussion über die Krise des na- tionalen Selbstbewußtseins. Im Gefolge gewann die Nationa- litätenfrage in Ungarn sowie in anderen ost-europäischen Länder an Schärfe.

Mit dem Untergang der kom- munistischen Macht und dem Zu- rückdrängen des kommunistischen Internationalismus scheint auch die Betonung des nationalen Be- wußtseins, der sich besonders das Ungarische Demokratische Forum im Wahlkampf noch bediente, ei- gentlich überflüssig zu sein. Aller- dings ist es sehr fraglich, ob es der neuen Regierung gelingen wird, den Dämon des Nationalismus, der zum Beispiel von einem der berühmte- sten Kandidaten des Forums, Ernö Raffay, durch ein Buch mit dem Titel „Geheimnisse Trianons" frei- gelassen wurde, wieder in die Fla- sche zurückzubekommen; wün- schenswert wäre es.

Der Durchschnittsungar ist mei- stens ratlos, wenn man ihn nach seiner Meinung über Trianon und die Minderheitenproblematik be- fragt, oder er schließt sich einer der oben genannten Positionen an. Es kann vorkommen, daß er eine eige- ne Mischung dieser Meinungen kreiert oder mit heftigem Nationa- lismus auf die Frage reagiert. Nur ein enger Kreis der Intelligenz ist sich bewußt, daß die ungarische He- gemonie im Karpatenbecken 1919 zu Ende war, daß das Überleben des falschen nationalen Selbst- bewußtseins für die Zukunft der Nation schädlich und gefährlich ist.

Man kämpft gegen die traditio- nelle Ansicht, nach der die Ma- gyaren eine vom Schicksal be- sonders bedrohte Nation seien. Nach den Erfahrungen der Nach- kriegszeit, als Millionen anderer Völker zwangsweise ausgesiedelt, in Konzentrationslagern ermordet oder einem fremden Staat ange- schlossen wurden, kann man die Trianon-Grenzen Ungarns nicht mehr als eine Massada-Festung halten, von der aus die Ungarn gegen die Eroberer ihren gerechten Krieg führen, weil das den Selbst- mord des gesamten Volkes bedeu- ten dürfte.

Der Weg der Erneuerung des ungarischen Volkes darf also nicht in die Vergangenheit zurückfüh- ren, sondern muß ein Zusammenle- ben mit den Nachbarn, eine wirt- schaftliche und geistliche Moder- nisierung ermöglichen, damit die Ungarn auch in den Nachbarlän- dern die Chance erhalten, sich kul- turell und geistig ihrem Vaterland anzunähern.

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