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Damals an der Ostfront

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Er stand neben mir, lag neben mir - ich hab ihn gut gekannt, glaube ich — und länger als die anderen Männer unseres unglücklichen Haufens.

Zum ersten Mal sah ich ihn in der Kirche des Wehrmachtsgefängnisses in Bruchsal, da zelebrierte er den Gottesdienst, und seine Stimme klang leise, traurig und belegt. Mit seinen iangen, f eingliedrigen Fingern hielt er das heilige Buch, sein Blick streifte jedes Gesicht im Raum wie eine Hand mit beruhigender Geste. Er

beugte seinen Kopf zart und leicht vor dem Bild des Gekreuzigten und wandte sich wieder zu seiner Gemeinde. Langsam, wohlüberlegt formten seine schmalen Lippen Wort für Wort. Er, sprach von der Liebe Gottes, dem bevorstehenden Fest, der Geburt des Herrn und den ruchlosen Taten seiner Peiniger. Er erzählte uns von den Schmerzen des Menschen Jesus, des Mannes aus Bethlehem, der ein wissender, gläubiger Jude war. Jude! Das Wort hing mahnend und anklagend im hohen Raum des Gotteshauses, war aufgepflanzt vor uns — gefährlich in dieser Zeit, diesem Jahr 1942. Mich durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. Der Mut des Predigers erschreckte mich, und es verschlug mir den Atem, als er den Stern von Bethlehem mit den Sternen verglich, die die Mitbrüder eben dieses Herrn Jesus „an ihrer Kleidung für jeden sichtbar" tragen mußten. Noch mehr kroch ich frierend in meinen Uniformmantel und vergrub meine zitternden Hände in den Taschen. Dabei spürte ich, wie mir kalter Schweiß den Rücken hinunterrann.

Um Gottes Willen, da redete sich einer von der Freiheit fort direkt hinter Gitter, da provozierte einer bewußt, so bewußt, als suche er seine Via dolorosa.

Das Harmonium tönte leise, wurde lauter und lauter und schrie plötzlich auf: Wir treten zum Beten...! Der Mann mit dem Buch stieg von der Kanzel und verließ, ohne sich umzusehen, den Raum, eine Tür knarrte, das

Schloß schnappte hinter ihm ein. Wie ein Symbol, dachte ich.

Am Heiligen Abend kam er in unsere Zelle, rotwangig, ausgefroren, nach Schnaps und Zigaretten riechend, aber nicht betrunken, nein: er war nur so — ich weiß nicht mehr wie, irgendwie sonderbar. Wie einer, der einen Schluck nehmen muß von Zeit zu Zeit, weil anderer Trost ihm nicht mehr ausreicht. Er öffnete den Mantel, zog Obst und Zigaretten aus der Tasche und auch das Buch, das er wieder mit seinen langen Fingern festhielt. So fest, als wollte er sich dran klammern wie an einen Rettungsring. Seine Fingerknöchel traten weiß und wie im Krampf hervor.

„Hört zu, Leute, nur ein paar Minuten. Ich weiß, wie Euch zu-mut ist, aber es ist trotzdem Weihnachten ... Macht mir die Freude, Euch eine Freude machen zu dürfen."

Und er las. Sechsundsechzig politische Häftlinge richteten ihren Blick auf ihn, horchten, begriffen schnell, wurden unruhig, erregt.

So sprach Dompropst Lichtenberg in Berlin, sagte er, so Kardinal Preysing, so redeten Muckermann und Dorr in Wien, so Galen in Münster —

„Und das Ziel, Pfarrer", flüsterte der Matrose mit dem unvergeßlichen Namen Jonny Sorgenfrei, Hamburger und Sozialist, „das Ziel?"

„Friede, Leute, Friede, aber einer in Freiheit und ohne Angst."

Ich erinnere mich genau: Wenn man aufstand, auf das obere Bett beim vergitterten Fenster stieg, konnte man einen Blick auf den Himmel erhaschen, trotz Gitter und Blende. Ich kletterte, sah empor in den frühen Abend. Die Wolken brachen gerade auseinander, es war windig, aber es stürmte nicht. Langsam wurde es dunkel, und dann war er zu sehen, er, der erste Stern, der Stern der Heiligen Nacht, der Stern, der die Hirten leitete, der Stern Davids, der so schaurig geschändet ward. Der Pfarrer blieb nicht lange, er ging bald, nicht, ohne jedem die

Hand zu reichen. Der Druck seiner Finger war kräftig, männlich: von Kamerad zu Kamerad.

Weihnachten 1943 verbrachten wir gemeinsam in Rußland. Unsere Feldstrafgefangenenabteilung 18 war ein kläglicher Trupp ausgemergelter, hungriger Männer, genauso wie Plivier sie nach Jahren beschrieben hat. Geschunden, mit Schwären bedeckt, von Läusen und Kälte gequält, im Sumpf arbeitend, ohne Waffe, mit

Klappspaten und rasiertem Schädel. Wir beerdigten Leichname, zogen Stolperdraht vor den Hauptkampflinien, gruben Löcher und Gräben vor der vordersten deutschen Front. Vor uns die „Feinde", hinter uns Wachtruppen mit und ohne Totenkopf auf dem Kragenspiegel.

Mich quälte ein Schweißdrüsenabszeß nach dem anderen, meine rechte Achselhöhle war von Einschnitten zerfetzt, Eiter rann in

die seit Wochen nicht gewaschene Wäsche. Vierundzwanzigster Dezember! Der Pfarrer, wegen unliebsamer Äußerungen zu uns versetzt, lag fiebernd im Zelt, in eine dünne Decke gehüllt. Das Hindenburglicht funzelte flak-kernd. Er hatte als einziger ein Paket von zu Hause erhalten: Kartoffelpuffer, die seit Wochen auf der Reise waren, verschimmelt und kaum noch genießbar, für uns jedoch ein Leckerbissen und ein Mundvoll Heimat, Mutterliebe, Familie. Er brach für jeden ein Stück ab und schob es uns wie eine Hostie in den Mund.

„Langsam kauen und lange nicht schlucken!"

Wir saßen da, froren und aßen. Der Geschützdonner hatte nachgelassen. Ein einsames russisches Flugzeug kurvte brummend über uns, setzte hier und da einen aus Leuchtkugeln bestehenden

„Christbaum". Hin- und hergerissen zwischen Angst, Hoffnungslosigkeit und Wut weinte ich wie ein hilfloser Bub still vor mich hin, aber ich schämte mich nicht, denn ich war hilflos. Völlig hilflos.

Er verlangte nach seinem Buch, blätterte darin und las laut:

„Und es begab sich -"

Das Licht war ausgebrannt wie die Männer, die sich um ihn drängten, doch er sagte weiter seinen Text: sein Evangelium. Dann legte er sich zurück.

„Und das Ziel, Pfarrer, das Ziel?" flüsterte ich und wußte, bevor er sprach, was er antworten würde: Friede, Leute, aber einer in Freiheit ohne Angst.

Wir ließen ihn in russischer Erde zurück, aber seinen Geist, seine Kraft und seinen Glauben habe ich mitgenommen. Mitgenommen und mit mir getragen bis zum heutigen Tag. Und wenn mich meine Söhne heute fragen: „Und das Ziel, Vater?", dann sehe ich sein Gesicht, das schmale, von Sorgen zerfurchte, fühle seine Hand in der meinen und wiederhole nur seine Worte: Friede, Friede, Friede.

Nein, ich weiß auch heute noch nichts hinzuzufügen.

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