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Damals in Rußland

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Ostersamstag, am Abend. Es ist still im Haus, vor der Ostermette haben sich alle hingelegt. Ich stehle mich in den Saal, will schauen, was auf der Straße los ist. Wenig Menschen sind unterwegs. Die Tapeten im Saal leuchten rosarot, von der Sonne, die untergeht. In allen Zimmern hängen purpurrote Lämpchen, Osterlämpchen: Waren es an Weihnachten nicht himmelblaue? Im Salon-ist der Osterteppich ausgelegt, darauf sind purpurrote Blumensträuße. Von den bordeauxroten Sesseln hat man die grauen Schonbezüge abgenommen. An den Ikonen hängen Kränze aus Rosen. Im Saal und auf den Korridoren liegen neue rote Läufer. An den Fenstern im Eßzimmer stehen Körbe mit purpurrot gefärbten Eiern: morgen wird Vater mit unseren Leuten den Osterkuß tauschen. In der Diele die grünen Karaffen mit Wodka: der wird dann kredenzt. Riesengroße, mit rosa Mull bedeckte Kulitsche ruhen — damit sie ja nicht zusammensacken — auf den Sofakissen im Eßzimmer und kühlen ab. Sie duften aromatisch, warm und süß.

Draußen ist es still. Ein buschiger Karren ist vom Hof gefahren: der Wacholder wird zur Kirche gebracht. Nun ist es ganz finster. Auf einmal erschreckt mich ein Flüstern:

„Warum schläfst du nicht, wanderst umher?“

Das ist Vater. Er ist gerade erst zurückgekehrt.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gefällt mir, in der Stille durch die Zimmer zu gehen, zu schauen, zu lauschen — alles ist anders, so ungewöhnlich, so heilig.

Vater zieht eine Sommerjacke an und macht sich daran, die Lämpchen vor den Ikonen nachzufüllen. Das tut er immer selbst, das kann keiner so gut wie er. Er geht von Zimmer zu Zimmer und singt halblaut: „Die Auferstehung Dein, o Jesu Christ...“

„Wie wär's, Freund, wenn du schlafen gingest?“

Vor unterdrückter Freude, vor Erschöpfung oder vor unvermutet sich einschleichendem Kummer fange ich zu weinen an, schmiege mich an ihn, will etwas sagen, weiß nicht was... Er hebt mich hoch bis zur Decke, wo der Star im Käfig sitzt, und lacht, daß die Zähne unterm Schnauzbart hervorblitzen.

„Na, dann komm, ich hab was für dich!“

Er trägt ein purpurrotes Lämpchen in sein Arbeitszimmer, stellt es zur Erlöser-Ikone, schaut, wie es gleichmäßig brennt und wie schön es im Zimmer davon wird. Dann holt er etwas aus dem Schreibtisch: ein goldenes Ei an einem Kettchen!

„Das nimmst du in die Kirche mit, verlier es bloß nicht. Na, mach mal auf...“

Ich bekomme es nur mühsam mit dem Fingernagel auf. Klick! Purpurrot und Gold im Innern.

Ein schweres Goldstück glänzt in der Mitte, in den Seitentäschchen neue Silbermünzen. Eine wunderschöne Geldbörse! Ich küsse die zärtliche Hand, die nach Baumöl riecht. Er nimmt mich auf den Schoß, streichelt mich.

„Was bin ich müde, Freund, doch die Arbeit hört nie auf... Geh, mach lieber ein kleines Schläfchen, ich döse auch ein bißchen.“

O unvergeßlicher Abend, mit den Lämpchen, das verlöschende Licht vor dem Fenster... Noch heute höre ich die langsamen Schritte, die versonnen summende Stimme -

Es singen die Engel im Himmel ...

Bei Tagesanbruch Glockenklang, unaufhörlich. Sonne und Glockenklang erfüllen den Morgen. Ostern, das hohe Fest.

Der Vater, festtäglich gekleidet, pfeift vor sich hin. Er steht in der Diele bei den Körben mit den roten Ostereiern und tauscht mit unseren Leuten den Osterkuß. Im Gänsemarsch kommen sie durch die Küche herein. Sie werfen die Haare zurück, wischen mit der Faust über den Schnauzbart und küssen ihn jeweils dreimal. „Christus ist auferstanden!“ — „Er ist wahrhaft auf erstanden!“—„Fröhliche Ostern!“ Sie bekommen ihr Ei und ziehen durch den Hausflur wieder ab. Der Zug ist lang: die Zimmerleute, dunkelblonde Männer; die Maler - hagerer und rothaariger; die Flößer, breitschultrige, stämmige Kerle; die schwergewichtigen Erdarbeiter aus Melenki, die geschickten Steinmetze, die Dachdecker, die Schauerleute und Heizer...

Im Hof werden sie bewirtet. Uber allem schaltet und waltet Wassü Wassilitsch im flammendroten Hemd, die Weste aufgeknöpft — gleich fängt er an zu tanzen. Ziehharmonika-Geleier. Die Leute tauschen untereinander den Osterkuß, überall wippen die Haarschöpfe. Mir tun schon die Lippen weh.

Wechselgeläut, volles Geläut, Festtagsläuten. Ostern, das hohe Fest.

Gegessen wird im Freien, bei den Holzstapeln. Auf frischen Brettern stehen die Speisen. Uberall rosarote, purpurne, blaue, gelbe, grüne Eierschalen, auch aus der Pfütze leuchten sie.

Ich betrachte die Ostereier, mit denen ich reichlich beschenkt wurde. Eines aus Kristall und Gold; blickt man durch, ist alles verzaubert. Eines mit dem sich reckenden feisten Würmchen; es hat ein schwarzes Köpfchen, schwarze Perlenaugen und ein Zünglein aus rotem Tuch. Dann eines mit Soldaten, eines mit Ent-lein, ein geschnitztes aus Elfenbein. Und eines aus Porzellan, das ist vom Vater. Darinnen ein wunderschönes Panorama. Hinter rosaroten und himmelblauen Immortellenblüten, hinter Moos und einem goldeingefaßten Glas ist in der Tiefe ein Bild zu sehen: ein schneeweißer Christus mit Kreuzesfahne, auferstanden aus dem Grabe.

Die Kinderfrau hat mir erzählt, wenn man ganz, ganz lange durch das Glas schaut, dann kann man ein lebendiges Englein sehen. Müde von den anstrengenden Tagen, den hellen Lichtern und dem Glockenklang blickte ich durchs Glas. Es flimmert mir vor den Augen, und es kommt mir so vor, als sei da hinter den Blumen etwas Lebendiges, unsagbar Freudiges, Heiliges... Gott? Es läßt sich nicht in Worte fassen. Ich drücke das Ei an die Brust, und das einlullende Glockengeläut wiegt mich in den Schlaf.

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