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Damit Dörfer ihr Gesicht behalten können

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Während bei uns das Dorf als Lebensraum zunehmend an Attraktivität gewinnt, ist von einem derartigen Trend in den Landregionen der neuen deutschen Bundesländer noch nichts zu spüren. Bis diese Vorstellungen Wirklichkeit werden, wird es noch einige Zeit dauern. Zu vielschichtig sind dort die Probleme, die am 2. Europäischen Dorferneuerungskongreß im Dezember in Reichenbach, Sachsen, zur Sprache kamen.

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Während bei uns das Dorf als Lebensraum zunehmend an Attraktivität gewinnt, ist von einem derartigen Trend in den Landregionen der neuen deutschen Bundesländer noch nichts zu spüren. Bis diese Vorstellungen Wirklichkeit werden, wird es noch einige Zeit dauern. Zu vielschichtig sind dort die Probleme, die am 2. Europäischen Dorferneuerungskongreß im Dezember in Reichenbach, Sachsen, zur Sprache kamen.

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Verständlich. Grau in grau präsentieren sich die Bauwerke, doch - sofern sie sich nicht im fortgeschrittenen Verfallstadium befinden - die alten, romantischen Bauwerke sind durchaus in der Lage die Fantasie zu beflügeln. Im Geist entsteht eine neue alte Pracht, im nostalgischen Zauber der „guten alten Zeit".

Reichenbach, eine kleine Stadt in Sachsen, nahe der polnischen Grenze, ist gerade dabei sich vom trostlosen Grau der vergangenen 45 Jahre zu erholen. Unweit vom 5500 Quadratkilometergroßen Lausitzer Braunkohlenrevier gelegen, ist hier die Kohle förmlich zu riechen. Die Menschen scheinen sich an die Reichenbacher Luft gewöhnt zu haben und Reihenuntersuchungen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung können sie nicht beunruhigen, diese gibt es nämlich nicht.

Der Zukunft, die eben erst begonnen hat, sieht man durchwegs gelassen entgegen, auch wenn sich viele der Erwartungen, die mit der Wiedervereinigung verknüpft waren, nicht erfüllt haben. Nach der anfänglichen Euphorie, der bald die Enttäuschung folgte, ist man jetzt dabei seinen Stand-

ort zwischen Ost und West, gestern und morgen neu zu bestimmen. Durchaus kritisch gegenüber dem alles zudeckenden Neuen, auf der Suche nach Eigenständigkeit, Lebensqualität und Sinnhaftigkeit. Großes Interesse daher auch von seiten der neuen deutschen Länder für den 2. Europäischen Dorferneuerungskongreß.

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte krempelten die Dörfer im Ostteil Deutschlands regelrecht um. Und nicht nur die dörfliche Struktur wurde vielerorts zerstört, rund sechzig Dörfer verschwanden ganz - fielen dem Braunkohlentagebau zum Opfer. Die Bevölkerung siedelte man um.

Die Sorben - eine Minderheit

Hoyerswerda, wegen seinergewalt-sämen Übergriffe auf Ausländer zu trauriger Berühmtheit gelangt, mauserte sich auf diese Art von einer Kleinstadt mit 8.000 Einwohnern zu einem Aussiedlerballungszentrum das heute an die 60.000 Einwohner zählt. Soziale Spannungen sind unter diesen Umständen unvermeidbar.

Von den Umsiedlungen besonders hart betroffen ist das Volk der Sorben, eine slawische Minderheit, die sich im 6. Jahrhundert in der Lausitz - dem heutigafBraunkohlenrevier -niederließ. Bis zum heutigen Tag pflegen sie ihre eigene Sprache, Kultur und Tradition, doch ihr Siedlungs-gebiet um Lohsa, im Kreis Hoyerswerda, wurde regelrecht umgeschaufelt. Von 1914 bis 1988 wurden dabei 1532 Milliarden Kubikmeter Erde bewegt und 425 Millionen Tonnen Kohle gefördert, die im nahegelegenen Wärmekraftwerk - dem größten Europas - verheizt wurden.

Die Dörfer der Sorben, früher umgeben von undurchdringlichen

Kiefemwälem, sind nach wie vor vom Kohleabbau bedroht, der sich unerbittlich weiter und weiter in die Landschaft frißt. Die Häuser, idyllische, jahrhundertalte Holzhäuser, einst Heimat und Lebensmittelpunkt der Vorfahren, werden verlassen und sind heute vielfach dem Verfall preisgegeben. Jedoch einige wenige sind geblieben und kämpfen um ihr Dorf, ihre Kultur, ihre Heimat, gegen die drohende Aussiedlung und gegen den industriellen Raubbau an der Natur. Seit der Wende - so scheint es zumindest - mit mehr Erfolg - im demokratischen Wechselspiel der Kräfte und gegen ökonomische Zwänge.

Doch nicht nur der Kohletagebau bedroht die Dörfer. Durch den lange Jahre schleichend stattfindenden Eigentumsverlust und den industrieähnlichen Arbeitsbedingungen in den LPGs, den Landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften, ist auch das Verständnis für ein naturbezogenes Leben verlorengegangen. Mangelndes Verantwortungsbewußtsein für das Eigentum, sobald dieses über den „häuslichen Herd" hinausgeht, wird zum Problem bei der Wiedererrichtung bäuerlicher Betriebe auf dem Land. Dazu kommt noch, daß die Menschen, die mit der Bearbeitung des Bodens noch vertraut wären, in einem Alter sind, in dem sie sich die Bewirtschaftung von Boden in Eigenverantwortung nicht mehr zutrauen oder auch gar nicht mehr antun wollen. Die Jungen aber ziehen es vor„ihr Heil" in der Stadt zu suchen. Im Dorf zurück bleiben die Frauen. Ihre

Sorgen, Probleme und Ängste waren ' dann auch das eigentliche Thema des Kongresses.

„Die Frauen in den neuen deutschen Bundesländern waren und sind ausgeprägt berufsorientiert", erklärte Friedrike de Haas, von der Sächsischen Staatskanzlei, Dresden. In der ehemaligen DDR waren rund 90 Prozent der Frauen berufstätig. Diese Berufstätigkeit war ideologisch gewollt, doch oft auch finanziell zwingend erforderlich. In vielen Fällen aber war sie freiwillig. „Die Arbeit trug zum erheblichen Teil zum Selbstwertgefühl der Frauen bei, sie brachte Selbstbestätigung, Selbstständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit", so . die parlamentarische Staatssekretä-ring für die Gleichstellung von Frau und Mann.

Umschulung für Frauen

Vor diesem Hintergrund muß das Problem der Arbeitslosen gesehen werden, von dem Frauen aus den ländlichen Gebieten besonders betroffen sind. Die schlechte Infrastruktur, Standortnachteile und unzureichende Weiterbildungsmöglichkeiten lassen auch für die nähere Zukunft nichts Gutes erhoffen. Die Situation eskaliert noch zusätzlich dadurch, daß Kinderkrippen, Kindergärten und Horte aus finanziellen Gründen geschlossen und Verkehrsverbindungen - da unwirtschaftlich - eingestellt wurden.

Um all diese Probleme in den Griff zu bekommen setzt Karsten Lorenz vom Landwirtschaftsministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin auf Beratung, wobei in erster Linie die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erfaßt werden sollen, um auf sie reagieren zu können.

In Mecklenburg-Vorpommern arbeiten zurzeit acht Berater über ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) in stationären Beratungszentren. 25 weitere mobile Beratungszentren sind im Entstehen. Nach festen Tourenplänen wird das Land „abgegrast", um die Frauen vor Ort anzusprechen, sie zu beraten und zu aktivieren.

Zusätzlich zu den Fortbildungslehrgängen und den Umschulungsange-

boten der Arbeitsämter, werden frauenspezifische Seminare angeboten und gefördert, die sich der Problematik „Frauen auf dem Lande" annehmen. Durch diese Seminare sollen sich Frauen neue Perspektiven und Fähigkeiten erwerben, umfassender und selbstbewußter das Leben im Dorfe mitzugestalten. Aufgabengebiete im kommunalen Bereich könnten dabei sein: Gestaltung und Pflege der Gemeinden, Pflege des Kulturerbes, Landschaftspflege und Naturschutz, Fremdenverkehr.

Mut machte den Frauen in den neuen Ländern Johanna Schmidt-Grohe, vom Familienfunk des Bayrischen Rundfunks, München. Sie zog Para-lellen mit den „Leidgenossinnen" in den alten Bundesländern, die ebenfalls die ganze Last landwirtschaftlicher Nebenerwerbsbetriebe zu tragen hätten. Erfahrungsaustausch unterden Landfrauen könnte dazu führen, sich das Leben leichter zu machen. Und „wenn es jetzt möglich ist, heruntergekommene Bausubstanz zu sanieren und die Heilung von Umweltschäden in Angriff zu nehmen, so sollten die Frauen in engem Kontakt mit der Jugend darüber wachen, daß Dörfer und Landschaften ihr Gesicht behalten, ohne daß - wie zum Beispiel in vielen westdeutschen Gebieten - ein Einheitsbrei zwischen historischer Bausubstanz gegossen wird", appellierte Frau Schmidt-Grohe an die Frauen.

Dorferneuerung beginnt in den Köpfen. Der 2. Europäische Dorferneuerungskongreß hat damit einen Anfang gemacht, denn nur wenn die Dorfbewohner sich des Wertes ihres Dorfes bewußt werden, sich mit ihrer Heimat identifizieren können, werden auch jene Kräfte frei werden, die notwendig sind, damit die Dorfent-wicklungssprogramme auch erfolgreich in die Tat umgesetzt werden können.

Die Zeit arbeitet dabei für das Dorf. Naturnähe, Freizeitwerte und Überschaubarkeit von menschlichen Gemeinschaften bekommen einen immer höheren Wert. Die ländlichen Räume - und insbesondere die Dörfer - könnten von diesem Wertewandel profitieren.

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