6804437-1971_50_14.jpg
Digital In Arbeit

Dank für den „Jux“

19451960198020002020

Wenn man irgendeinen Wiener Schauspieler mit der Frage überraschte: „Was war am 7. Dezember 1801?“, wüßte vermutlich kaum einer die richtige Antwort: „An diesem Tag ist Nestroy geboren worden.“ Wo das war, weiß ich auch nicht genau, denn in ihren Nestroy-Biographien sagen Basil und Kahl, es sei der Sternhof in der Jordangasse gewesen, dagegen behauptet das reizende alte Haus in der Bräunerstraße Nummer 3 gewissermaßen selbst („Wien — eine Stadt stellt sich vor“), Nestroys Geburtshaus zu sein. Sein Denkmal, das früher in der Praterstraße stand, mit dem Gesicht dem Carltheater zugekehrt, befindet sich jetzt in Penzing, im Hof des Palais Cumberland, „wie absichtlich versteckt und dem Bewußtsein der Stadt entrückt“ (Hans Weigel).

19451960198020002020

Wenn man irgendeinen Wiener Schauspieler mit der Frage überraschte: „Was war am 7. Dezember 1801?“, wüßte vermutlich kaum einer die richtige Antwort: „An diesem Tag ist Nestroy geboren worden.“ Wo das war, weiß ich auch nicht genau, denn in ihren Nestroy-Biographien sagen Basil und Kahl, es sei der Sternhof in der Jordangasse gewesen, dagegen behauptet das reizende alte Haus in der Bräunerstraße Nummer 3 gewissermaßen selbst („Wien — eine Stadt stellt sich vor“), Nestroys Geburtshaus zu sein. Sein Denkmal, das früher in der Praterstraße stand, mit dem Gesicht dem Carltheater zugekehrt, befindet sich jetzt in Penzing, im Hof des Palais Cumberland, „wie absichtlich versteckt und dem Bewußtsein der Stadt entrückt“ (Hans Weigel).

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn man Pariser Schauspielern die Frage stellte: „Was für ein Datum ist der 15. Jänner 1622?“ so würden sie alle, mindestens in der Comėdie Franęaise, ausnahmslos wissen, daß es der Geburtstag Moliėres ist, ja sie würden ihn wahrscheinlich gar nicht „Moliėre“ nennen, sondern den Patron. Das ist ein wunderschönes Wort im Französischen, denn da steckt etwas von Herr drin und von Vater, von Chef und natürlich etwas von unserem Schutzpatron. Der Patron ist derjenige, der für die Unterhaltung seines Volkes und für den Unterhalt seiner Truppe sorgte, der Jahr für Jahr sich und den Seinen jene herrlichen Stücke und Rollen schrieb, die seit ihrer Uraufführung zum festen Bestand des Repertoires gehören. Dem Patron fühlt man sich stets verbunden, man legt am Tage einer Neuinszenierung einen Veilchenstrauß vor eine seiner vielen Büsten, berührt vor der Premiere die Nase einer bestimmten Statue,

die daher weiß poliert aus dem vom Alter grau gewordenen Marmor leuchtet, seine Gedenktage feiert man als große Feste. Das Selbstverständliche hat sich bei den französischen Schauspielern ereignet und es ereignet sich immer aufs neue: sie sind Möllere dankbar.

Und wir? Haben wir weniger Grund, unserem Nestroy dankbar zu sein? Kennen wir ihn? Ich gestehe, daß ich schon viel länger weiß, daß Moliėre sehr groß, schlank, dunkelhaarig war, ein hervorragender Schauspieler mit einer unerhörten Zungenfertigkeit, daß er über den Umweg ernster Rollen zu seinem eigentlichen Fach des großen Charakterkomikers kam, daß er Stücke schrieb, weil er für sich und seine Kollegen Komödien brauchte, daß er bitter, aggressiv nur dort war, wo er in seinen Landsleuten das Böse treffen wollte: den Geiz, die Heuchelei, das Geckentum, daß er im Umgang der liebenswürdigste, nachsichtigste, sogar schüchterne „gute Kerl“ war — ja das wußte ich schon von Moliėre, ehe ich staunend entdeckte, daß alles eben Gesagte genauso auf Nestroy zutrifft. „Wie kann ein Mann von Ihrem Genie, von Ihrer Berühmtheit Vergnügen daran finden, allabendlich auf der Bühne den Narren zu spielen, Ohrfeigen einzustek- ken, Fußtritte zu bekommen?“ fragte der große Literaturkritiker Boileau seinen Freund Moliėre. — Die gleiche Schauspieler-Besessenheit hätte Nestroy genau so antworten lassen: „Das verstehen Sie nicht.“

Die Biographien der beiden größten Schauspieler-Autoren des ‘Kontinents weisen eine Unzahl von Ähnlichkeiten auf: beide stammen aus gutbürgerlicher katholischer Familie, heißen Johann, verlieren im Kindesalter die Mutter, sind im Stadtzentrum (Paris, Wien) geboren, besuchen ein hervorragendes Gymnasium, sind hochgebildet, sprachenkundig, beenden ihr Jusstudium nicht, ergreifen den vom Vater gewünschten Beruf nicht, weil die Liebe zu einem bestimmten weiblichen Wesen ihnen den Weg zum Theater weist. Beiden machen die Frauen ihr Leben lang zu schaffen, sie können ohne Liebe nicht sein, wohl aber ohne Illusionen. Das hat zu der Meinung geführt, Nestroy habe keine guten Frauenrollen geschrieben. Er hat die Frauen — bis auf die ganz jungen, bei denen die Haare auf den Zähnen noch nicht nachzuweisen sind — bloß nicht idealisiert.

Was für eine köstliche Figur ist etwa „Regine Geldkatz, eine Kapitalistin“, dominierende Rolle der Posse „Die Gleichheit der

Jahre“. Allerdings, man kennt die Komödie so wenig wie viele andere ausgezeichnete Stücke Nestroys. Sein Leben, wie das des großen Franzosen, hat sich auf der Bühne und mit Arbeit für die Bühne erschöpft. Von beiden ist außer ihren Stücken fast nichts auf die Nachwelt gekommen. Moliėre ist einundfünfzig, Nestroy einundsechzig Jahre alt geworden. Von Moliėre gibt es dreiunddreißig, von Nestroy dreiundachtzig Stücke. (Jeder hat ein ernstes, völlig belangloses Stück geschrieben, Moliėre „La Princesse d’Elide“, Nestroy „Friedrich, Prinz von Korsika“.)

Wenn in der französischen Klassikerausgabe Larousse achtzehn kleine Bändchen mit Texten Moliėres erschienen sind, kann man sich darauf verlassen, daß jeder Franzose um einen geringen Betrag sich die wesentlichen Komödien Moliėres an- schaffen wird. Um alle guten Stücke Nestroys kennenzulemen, muß man vierzehn stattliche Bücher einer fünfzehnbändigen Ausgabe durchlesen, deren Anschaffung mehr als 8000 Schilling kostet. Wer sich allerdings diese angenehme Arbeit macht, kommt zu dem verblüffenden Resultat, daß längst nicht alle brauchbaren Stücke Nestroys in den letzten Jahrzehnten aufgeführt, die meisten nicht mit der entsprechenden Inszenierung, Besetzung usw. zu ihrer bestmöglichen Wirkung gebracht wurden. Trotz der aufsehenerregenden Vorträge und Artikel, die schon vor einem halben Jahrhundert Karl Kraus im Dienste Nestroys verfaßt hat, schlummert nach wie vor vieles unerweckt, was bei der Uraufführung vom Publikum und von der Presse abgelehnt wurde, weil die

Wiener ganz ohne Schmeichelei porträtiert waren.

Moliėre hat erst als Kollege, dann als Chef seine Truppe durch weite Teile Frankreichs geführt, aus dem er selbst nie hinausgekommen ist, aber seine Schauspieler haben seine Stücke in die fernsten Länder der zivilisierten Erde getragen.

Nestroy, genau hundertachtzig Jahre später geboren und Zeitgenosse der Eisenbahn, kannte die Städte der Monarchie, die großen deutschen Städte, Amsterdam und Paris. Das ist herzlich wenig, gemessen an dem, was seine Schauspieler ihm an Reisen zu danken haben! Die wunderbare Stelle im „Jux“, jene Initialzündung im Kopfe Weinberls, aus der alle spätere Bewegung entsteht, spricht sehnsüchtig den Wunsch nach Reisen aus: „Wenn man nur aus unkompletten Makulaturbüchern etwas vom Weltleben weiß, wenn man den Sonnenaufgang nur vom Bodenfenster, die Abendröte nur aus Erzählungen der Kundschaft kennt, da bleibt eine Leere im Innern, die alle Ölfässer des Südens, alle Heringfässer des Nordens nicht ausfüllen, eine Abgeschmacktheit, die alle Muskatblüt’ Indiens nicht würzen kann.“

Allein der „Jux“ brachte uns, ein Ensemble des Burgtheaters, an einem strahlenden Junitag zum

Hollandfestival, und das bedeutete die Bilder Rembrandts, die Grachten, den Hafen von Rotterdam, die Kaufhäuser, die indonesische Reistafel. Der „Jux“ bedeutete auch Paris bei mildem Oktoberwetter und das erste offizielle Gastspiel einer fremden Truppe an Europas ehrwürdigster Bühne, der Comėdie Franęaise. In der Simultanübersetzung klangen Weinberls vertraute Worte vom Kommis, der sich an ein Zuckerfaß lehnt und in süße Träumereien versinkt, zauberisch fremd, etwa wie Worte Mussets (… se plonge dans des douces rėveries …). Der „Jux“ brachte den Flug über den Ozean und den unvergeßlichen Anblick, den New York in der Abenddämmerung bietet, wenn man vom — 86 Stockwerke hohen — Empire State Building die allmählich aufblitzenden Lichter Manhattans sieht. Der „Jux“ bedeutete blühenden Tee und Japans heiligen Berg, Perlen in Tokio und Seide in Bangkok, Überfliegen der Datumsgrenze und das Bewußtsein von der Rundheit der Erde, San Franzisko und Brüssel, Antwerpen und Belgrad, Utah, Agram und Hongkong.

Als eine der Unzähligen, die ihm gleich mir verpflichtet sind, sage ich Nestroy hiefür vom ganzen Herzen Dank an seinem 170. Geburtstag.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung